Ä4 zum W2

Ergänze nach Z. 6:

Der Spaltung entgegenwirken – Klares Bekenntnis zu nachhaltigem Wachstum

Die industrielle Arbeiter*innenschaft hat durch eine starke gewerkschaftliche Organisationsquote hohe Tariflohnabschlüsse erkämpft und Anschluss an die Mittelschicht der Angestellten gefunden. Diese Entwicklung kann auch als „Ende des Proletariats“ beschrieben werden und findet Ausdruck in der These, dass sich die „Sozialdemokratie zu Tode gesiegt“ habe. Eine trügerische Einschätzung, denn der eigentliche Bruch in dieser neuen industriellen Mittelschicht hatte schon mit den ersten Zechenschließungen Ende der 50er Jahre in Ostwestfalen eingesetzt. Das Zechensterben war dabei nur das markanteste Beispiel für eine Entwicklung, die vom Verschwinden industrieller Arbeitsplätze geprägt war. Selten wurde es dabei so laut wie bei den Protesten zwischen Rhein und Ruhr, aber die Deindustrialisierung erfolgte stetig, lautlos und dauerhaft. War 1970 noch jeder zweite Arbeitsplatz in Deutschland im industriellen Sektor angesiedelt, war es in den 1990er Jahren nicht mal mehr jeder dritte.

Neben der Tatsache, dass technologische Entwicklungen zu einem Abbau von Arbeitsplätzen geführt haben und in der Spitze bedeuten, dass ganze Produktionsketten automatisch ablaufen und noch durch eine Maschienenbediener*in kontrolliert werden, hat auch die neoliberale Hochphase zu einem Umdenken in der Unternehmensführung geführt. Zum einen ist Shareholder-Value-Prinzip ist schon Ende der 80er Jahre zum betriebswirtschaftlichen Einmaleins geworden und damit die Macht von Betriebsräten und Gewerkschaften Stück für Stück aus den Unternehmen verschwunden. Zum anderen haben Digitalisierungs- und Outsourcingprozesse zu einer Optimierung von Produktionsabläufen geführt, die in den meisten Fällen einfache Arbeitsabläufe ins günstigere Ausland verlagerten. Die deutsche Arbeitnehmer*innenschaft wurde Stück für Stück spezialisiert bis zu dem Punkt, an dem eine ganze Produktionsbranche wegbrach und diese Spezialist*innen nicht mehr gebraucht wurden. Weil vor allem große Industrieunternehmen nicht die notwendige Flexibilität mitbrachten, traf diese Entwicklung das europäische Ausland deutlich härter als Deutschland, dessen industrieller Sektor vor allem durch mittelständischen Werkzeug- und Maschinenbau geprägt ist. So ist beispielsweise die englische Textilindustrie inzwischen fast völlig verschwunden.

Doch auch in Deutschland hat sich durch einen neuen Finanzmarkkapitalismus das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit noch einmal völlig neu definiert. Die Gewinne werden nicht mehr durch die eigentliche Produktion, sondern durch Börsenwetten generiert. Natürlich sind Teile der ehemaligen Industriebelegschaften auch im Dienstleistungssektor untergekommen. Gerade dort ist aber der gewerkschaftliche Organisationsgrad deutlich geringer und so ist ein Wechsel oft mit sozialem Abstieg verbunden. Außerdem sind öffentlicher Dienst und Dienstleistungssektor nicht im gleichen Maße gewachsen, wie der industrielle Sektor geschrumpft ist. Dieser Weg war also nicht für jede*n möglich. Wer im letzten Drittel des Erwerbslebens steht, kann keine langjährigen Umschulungsprozesse durchlaufen.

Im Zusammenspiel mit der Neuordnung der Sozialgesetzgebung unter dem Schlagwort Agenda2010 entwickelt sich so eine Art Teufelskreis. Menschen, die irgendwann ihre Arbeitsstelle verloren und mit Anfang Fünfzig nicht zurück in den Arbeitsmarkt gefunden haben, finden nicht zurück ins Erwerbsleben. Nach zwei Jahren Arbeitslosengeld I sind sie dann ganz unten angekommen: Auf „Hartz IV“. Als Folge müssen sie ihre Ersparnisse oder ihr Eigenheim aufgeben und stehen auf einer sozialen Stufe mit denjenigen, die noch nie gearbeitet hatten. Die hart erkämpften Erfolge von dreißig Jahren Erwerbsbiografie, auf die sie stolz waren, sind quasi aus dem Lebenslauf gestrichen worden. Das ist menschlich hart, demotivierend und es nimmt den Menschen ihr soziales Selbstverständnis.

Daneben trifft diese Entwicklung auch ungelernte Arbeiter*innen und Migrant*innen im besonderen Maße, weil diese beiden Gruppen oft auch prekäre Bildungsvorrausetzungen in einem selektiven deutschen Schulsystem haben. Für diese Gruppen gab es in den letzten Jahren keine „gute konjunkturelle Lage in Deutschland“. Der Gini-Koeffizient, der Vermögensverteilungen misst, hat sich laut OECD in den letzten zwanzig Jahren immer weiter erhöht. Das bedeutet vereinfacht gesagt: Große Teile der Gesellschaft partizipieren nicht am Wohlstand.

Gerade in den neuen Bundesländern ist diese Entwicklung besonders stark zu beobachten. Die staatlichen Großunternehmen der DDR sind nach der Wende im rasanten Tempo zerschlagen und privatisiert worden. Von den 150 Großbetrieben in der DDR mit mehr als 5000 Beschäftigten blieben nach der Wende noch fünf. Die Erfahrungen und Enttäuschungen, die die Menschen dort gemacht haben, wissen (neben anderen politischen Fehlentwicklungen wie etwa den fehlenden Konsequenzen für gewaltbereite Neonazis in den 1990er-Jahren) rechtsradikale Kräfte in Stimmenpotenzial umzusetzen. Ähnliche Entwicklungen lassen sich in den USA und Großbritannien beobachten: Es waren gerade die Regionen mit einer früher starken Industrie, deren Strukturwandel als politische Antwort der neoliberalen Politiken die Leitlinie „Das soll der Markt richten“ hatte, in denen viele Menschen gegen ihre eigentlichen ökonomischen Interessen für Trump oder für den Brexit gestimmt haben. Diese Stimmen sind auch ein Protest gegen eine linke Politik, die sich auf identitätspolitische Fragen konzentriert, die Spaltung der Gesellschaft durch die Deindustrialisierung aber für kaum relevant gehalten hat. Aber gerade der Teil der politischen Linken, der die Klassengesellschaft für überwunden gehalten hat, hat die Menschen verloren, die das Vorhandensein von Klassen mit unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verwirklichungschancen jeden Tag in ihrem Alltag zu spüren bekommen. Diese Spaltung zwischen Zentrum und Peripherie ist wohl nirgendwo so eindrucksvoll zu beobachten wie in den USA: Küstenregionen mit nahmen Zugriff zu politischer, wirtschaftlicher und medialer Macht und dazwischen deindustrialisierte Regionen, die im Volksmund als „flyover states“ verspottet werden, weil die Mächtigen und Reichen sie nur vom Blick aus dem Flugzeug kennen. Wo eine politische Linke mit der Beantwortung sozialer Fragen und dem Versprechen von Anerkennung, sicheren Arbeitsplätzen und einer guten Infrastruktur ausbleibt, ziehen sich die Menschen ins Nationale zurück. Die Rechten können zwar auch keine sozialen Antworten bieten, aber sie bieten Anerkennung über nationale Identitäten.

Gerade deshalb ist es sozialdemokratische Aufgabe, die von den Rechten instrumentalisierten Ängste zu nehmen und durch ein positives-progressives Bild zu ersetzen. Dazu gehört es auch, der Verachtung von industrieller Arbeitswelt entgegen zu treten. Wer die gesellschaftlichen Spaltungen beenden will, muss Industriepolitik gestalten wollen. Gesellschaftliche Veränderung wie die die ökologische Transformation brauchen politische Mehrheiten.

Die Sozialdemokratie hat im Laufe ihrer Geschichte gelernt, die Kritik am kapitalistischen Wachstum in konkrete Gestaltung des Fortschritts weiterzuentwickeln. Konzeptionell ist daraus die die Idee eines sozialen Wachstums entstanden. Durch die Entdeckung des Klimawandels wurde und ist bis heute klar, dass wir nicht so weiter wachsen können wie bisher. Weil die “Zurück-in-die-Höhle“-Vorstellung der Nullwachstums-Anhänger*innen aber einen Verzicht auf emanzipatorische Kerngedanken der Sozialdemokratie wie ein gutes Leben für alle, wachsende demokratische und wirtschaftliche Teilhabe, wachsende individuelle Entfaltungsmöglichkeiten, offene Bildungsprogramme für alle, Entlastung von ausufernder, körperlich harter Arbeit und so weiter bedeuten würde, haben vor allem Sozialdemokrat*innen die Idee von grünem Wachstum, also Fortschritt ohne Raubbau an Ressourcen, entwickelt. 2018 lag der Anteil erneuerbarer Energien im Stromsektor in Deutschland bei 38 Prozent. Die Treibhausgasemissionen konnten seit 1990 um fast 30 Prozent gesenkt werden. Alleine die Chemie-Industrie hat den Ausstoß von Schadstoffen seit 1990 halbiert. Auch wenn nach aktuellem Stand die Anstrengungen nicht ausreichen werden, um die von der Bundesregierung gesteckten Ziele (40 Prozent Minderung der Treibhausgase bis 2020 gegenüber 1990, 55 Prozent bis 2030, 70 Prozent bis 2040 und Treibhaus-Neutralität bis 2050) zu erreichen, so zeigt sich grundsätzlich: Wachstum und Nachhaltigkeit sind keine Widersprüche.

Gerade wenn es um Arbeitsplätze und Strukturwandel in alten Industrie-Regionen geht, kann aber ein Zielkonflikt zwischen grünem und sozialem Wachstum bestehen. Richtige soziale Ziele und notwendige ökologische Transformation dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Deshalb gilt es grünes und soziales Wachstum zu nachhaltigem Wachstum zu vereinen. Dieses Wachstum ist ein Gegenmodell zum Wachstum des neoliberalisierten Kapitalismus: In eine gute Zukunft für alle wachsen statt kurzfristig den größtmöglichen shareholder value zu erzeugen.“