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INI1 Im Westen geht die Sonne auf - Unsere Forderungen für das NRW von morgen

28.09.2021

Die Ausgangslage

Gut sieben Monate vor der Landtagswahl sieht es düster aus in Nordrhein-Westfalen. Die schwarz-gelbe Landesregierung kriegt die Corona-Zahlen nicht in den Griff. Leidtragende sind dabei vor allem Kinder und Jugendliche, die sich nicht nur mit einer hohen Inzidenz in ihrer Altersgruppe abfinden müssen und deren Bedürfnisse während der Pandemie grundsätzlich an letzter Stelle beachtet werden. Sie befinden sich außerdem schon im zweiten Jahr ihrer Bildungsbiografie, in dem sich soziale Ungleichheiten massiv verschärfen, weil die politisch Verantwortlichen nicht willens oder zu inkompetent waren, um Bildung und damit Zukunftschancen adäquat zu gewährleisten.

Nach Zukunftschancen suchten auch viele junge Erwachsene in Form eines Ausbildungsplatzes vergeblich. Zu viele blieben nach ihrem Schulabschluss im Wartesaal des Lebens hängen und konnten nicht den nächsten so wichtigen Schritt in ein eigenständiges Leben gehen. Und bei vielen Jugendlichen, die ohne Abschluss die Schule verlassen haben, weiß die Landesregierung noch nicht mal, was diese eigentlich gerade machen. Ohne Begleitung und Förderung steht ihnen ein Leben in prekären Verhältnissen bevor. „Kein Kind zurücklassen“ – das war einmal in NRW.

Nicht zuletzt verbaut die Landesregierung unser aller Zukunftschancen mit ihrer gestrigen Klima- und Industriepolitik, was gerade für ein erfolgreiches Industrieland wie Nordrhein-Westfalen eine Katastrophe ist. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) bescheinigte NRW in einer Studie aus dem Jahr 2019, dass nur noch ein anderes Bundesland weniger Erfolge beim technologischen und wirtschaftlichen Wandel vorzeigen kann als NRW – das Saarland. Bei den Erneuerbaren Energien schmückt sich die Laschet-Regierung mit den Ausbau-Zahlen in der Windkraft, für die noch die letzte rot-grüne Regierung verantwortlich ist und stoppt im Hier und Jetzt durch die 1.000 Meter-Abstandsregel faktisch jeglichen weiteren Ausbau. So ist eine erfolgreiche sozial-ökologische Transformation nicht zu machen.

Es sieht also düster aus in NRW und eigentlich könnte man die Plakat-Parolen der CDU aus dem letzten Landtagswahlkampf jetzt wieder plakatieren. Keines ihrer Versprechen haben sie in den letzten dreieinhalb Jahren eingelöst. Aber uns geht es nicht um das, was war. Sondern um das, was sein sollte. Wir wollen dafür sorgen, dass es heißt: Im Westen geht die Sonne auf.

Dazu machen wir uns gerade gemeinsam mit der NRWSPD in kritischer Solidarität auf den Weg, um ein Zukunftsprogramm für das NRW von morgen zu schreiben. Wir wollen die schwarz-gelbe Landesregierung ablösen. Nicht als Selbstzweck, sondern weil wir finden, dass vier Jahre lang genug kaputt gemacht wurde. Wir wollen in NRW anpacken und das Leben der Menschen hier ganz konkret verbessern. Wir werden Zukunftschancen schaffen und dafür sorgen, dass in NRW alle, das Leben führen können, was sie führen möchten. Dafür formulieren wir anhand dreier Schwerpunkte Forderungen, die sich aus jungsozialistischer Perspektive im Zukunftsprogramm der NRWSPD für die Landtagswahl wiederfinden müssen. Unsere Schwerpunkte lauten: Bildung für alle, Gute Arbeit und Ausbildung und die sozial-ökologische Transformation als Erfolgsgeschichte. Und hier kommen unsere Forderungen:

Bildung für alle

Aus jungsozialistischer Perspektive ist Bildung die entscheidende Grundvoraussetzung dafür, dass jeder Mensch das Leben führen kann, was er oder sie führen möchte. Auch mit Blick auf unsere sozialdemokratische Geschichte hatte Bildung stets das emanzipatorische Potential, Klassenbewusstsein zu schaffen, Teilhabe zu ermöglichen und die soziale Lage der eigenen Schicht zu verbessern. Ob es die Arbeiter*innenbildungsvereine aus der Anfangszeit unserer Bewegung waren, die eine zentrale Mobilisierungsfunktion innehatten oder die Bildungspolitik der SPD in den 60er und 70er Jahren, die zu einer massiven Demokratisierung der Bildungsinstitutionen führte und das Versprechen vom Aufstieg durch Bildung für viele wahr machte, für die es ohne diese sozialdemokratische Reformpolitik unerreichbar geblieben wäre.

Aber wenn wir unseren Blick auf das Bildungssystem von heute richten, müssen wir feststellen, dass das Versprechen vom Aufstieg durch Bildung nicht mehr gilt. Die Zeiten, in denen es ‚unseren Kindern mal besser gehen sollte‘, scheinen vorbei. Die eigene Herkunft entscheidet viel zu sehr über die eigene Zukunft. Die unterschiedlichen Bedingungen, mit denen Menschen auf die Welt kommen und die das Bildungssystem ausgleichen müsste, werden stattdessen reproduziert. Schon Kinder und Jugendliche erleben Klassismus, Sexismus und Rassismus. Zukunftschancen werden nicht ermöglicht, sondern verhindert. Erst kürzlich stellte der DGB anlässlich einer veröffentlichten Expertise des Bildungsforschers Klaus Klemm fest: „Die soziale Spaltung bleibt die offene Wunde unseres Bildungssystems.“

Damit können und wollen wir uns nicht länger abfinden. Als NRW Jusos fordern wir ein Bildungssystem, dass allen Menschen ermöglicht, sie selbst zu werden, sich zu verwirklichen und das Leben zu führen, das sie führen möchten – egal wie viel Geld ihre Eltern haben, wie sie aussehen, wen sie lieben oder mit welchem Geschlecht sie sich identifizieren. Um das zu erreichen, müssen wir Bildung in der vollen Breite in den Blick nehmen – von der frühkindlichen Bildung über Grundschule und weiterführende Schule, bis zur Ausbildung oder zum Studium und darüber hinaus. Unsere Vorstellung eines gerechteren Bildungssystems ist durch einen hohen Grad an Diversitätssensibilität, Demokratiepädagogik und Digitalisierung gekennzeichnet.

Wir wollen nicht länger von Chancengleichheit schwafeln und im Tunnel der Problemanalyse stecken – wir wollen die Bildungsungerechtigkeit aktiv bekämpfen, die durch Klassismus, Rassismus, Ableismus und Queerfeindlichkeit befördert wird.

Und wir fordern unsere Partei dazu auf, gemeinsam mit uns mutig zu sein und die dringend notwendigen Reformen anzugehen. Nach dem bildungspolitischen Stillstand durch mehr als 10 Jahre Schulfrieden, braucht es nun einen echten Neustart in der Bildungspolitik Nordrhein-Westfalens. Wir dürfen uns nicht länger nur mit kleinen Reparaturen an einem falschen System begnügen, sondern müssen große Schritte gehen, um ein Bildungssystem zu schaffen, das allen Kindern und Jugendlichen Teilhabe ermöglicht, anstatt sie weiter zu verhindern.

Dazu fordern wir:

  • Konkrete Schritte hin zu einem integrierten und gerechten Schulsystem. Dazu gehören u.a.:
    • eine Kultur des Behaltens an den Gymnasien in NRW; keine Abschulung mehr von einmal aufgenommenen Kindern.
    • die Ermöglichung einer Sekundarstufe II am Standort der Sekundarschulen
    • eine stärkere Unterstützung der integrierten Schulen, die Großes leisten, hinsichtlich finanzieller und personeller Ressourcen.
    • die Einsetzung einer Kommission aus Bildungsexpert*innen (Schüler*innen, Lehrer*innen, Forschende), die einen Vorschlag zur Überarbeitung der Lerninhalte erarbeiten soll. Für uns stehen dabei die Prinzipien demokratische Bildung, Selbstreflexion und Selbstständigkeit im Mittelpunkt. Ein neues Lernkonzept muss Antworten auf die Probleme von Schüler*innen liefern und das notwendige Wissen und die entsprechenden Fähigkeiten für ein selbstständiges Leben als mündige Bürger*innen vermitteln. Dieses Lernkonzept soll nicht nur bestehende Fächer überprüfen und potenzielle weitere Fächer evaluieren, sondern auch das grundsätzliche Lernen in Form von Schulfächern oder im festen Schulklassenverband hinterfragen und bei Bedarf alternative Möglichkeiten aufzeigen. Dabei sollen auch Lerngruppenübergreifende Lernmethoden berücksichtigt werden.
    • eine Schule ohne Noten. Stattdessen brauchen wir ein neues Beurteilungssystem, dass die individuellen Lebenslagen von Schüler*innen berücksichtigt und eine fördernde Lernkultur schafft. Schüler*innen müssen künftig an Leistungsbewertungsprozessen partizipieren dürfen und diese sollten in dialogischen und fördernden Bewertungsräumen erfolgen.
    • eine deutliche Weiterentwicklung des Ganztags. Im Ganztagsbereich sollen Jugendliche nicht nur betreut werden, sondern es braucht ein breites Angebot an Arbeitsgemeinschaften aus dem naturwissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen, linguistischen, kulturellen und sportlichen Bereich, in denen sie wichtige Schlüsselkompetenzen außerhalb des Lernstoffs erlernen können. Lokale Initiativen und Vereine sind aus unserer Sicht dabei sinnvolle Kooperationspartner*innen. Schließlich braucht es im Ganztag auch flexible Angebote, die nicht unbedingt im institutionalisierten Bereich der Agen stattfinden müssen. Schüler*innen brauchen auch die Möglichkeit, selbstorganisiert mit Mitschüler*innen Projekte umzusetzen oder sich auch zur Eigenarbeit zurückziehen zu können.
    • die Inklusion endlich richtig umsetzen. Damit das gelingt, braucht es mehr Personal vor allem bei den Assistenzen als Teil eines multiprofessionellen Teams, damit nicht länger Sozialpädagog*innen diese Aufgabe mit übernehmen, wie es häufig im Schulalltag der Fall ist. Außerdem ist zu überlegen, ob ein Verzicht auf die Förderschwerpunkte möglich ist, da diese häufig zu einem vorschnellen Labeln führen. Wir wollen Inklusion so gestalten, dass die Kinder und ihre Eltern selbst entscheiden können, welche Teile des Schullebens in einem inklusiven Unterricht stattfinden sollen und wo es vielleicht auch einen notwendigen Schutzraum braucht. All das aber unter einem Dach, in einem System und mit einem Kollegium und nicht in zwei getrennten Parallelsystemen. Zusätzlich beobachten wir, dass die Bebauung von Schulgebäuden immer noch inklusionsgefährdende Mängel aufweist. Durch mangelnde Barrierefreiheit der Gebäude und Schulräume ist eine echte Inklusion kaum möglich – auch hier müssen vor allem den Kommunen mehr finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit sie ableistische Architekturen modernisieren können.
  • Unser Ziel bleibt eine Schule für alle, an der alle Kinder und Jugendlichen von der ersten Klasse bis zu ihrem jeweiligen Abschluss an einem wohnortnahen Standort unterrichtet werden. Auf dieser Schule für alle findet ein binnendifferenzierter Unterricht in kleinen Klassen statt, in denen sich multiprofessionelle Teams um die individuellen Bedürfnisse der Schüler*innen kümmern. Und an dieser Schule für alle können sämtliche Schulabschlüsse erreicht werden.
  • Für eine diverse Bildung an Schulen fordern wir:
    • die Schaffung von diskriminierungsfreien Bildungsstrukturen. Darunter verstehen wir, dass kontinuierliche und reflexive Diversitätssensibilisierungsangebote für Lehrkräfte zum Standard werden und bereits im Ausbildungsprozess eine verpflichtende Rolle einnehmen. Für von Diskriminierung Betroffene fordern wir bedarfsgerechte Empowermentstrukturen, die durch externe Akteur*innen begleitet werden.
    • die Schaffung von Antidiskriminierungsstellen als Schutzstellen für Kinder, Jugendliche und Eltern, bei denen sie Diskriminierungs- und Rassimusfälle melden und sich beraten lassen können. Auch diese Stellen sollten von externen Akteur*innen besetzt werden.
    • diversitätssensible Lerninhalte insbesondere zu den Themen Migration, Rassismus und Antisemitismus, sexuelle und geschlechtliche Vielfalt sowie Feminismus, die ebenfalls von der von uns geforderten Kommission berücksichtigt werden müssen.
  • Für eine demokratische Bildung von Anfang an fordern wir:
    • die verbindliche Einsetzung von Partizipationselementen in frühkindlichen Bildungseinrichtungen. Dies kann in Form eines Kinderparlaments oder auch einer Kinderversammlung erfolgen. Darüber hinaus fordern eine bestimmte Anzahl an projektbezogener Beteiligung im Jahr mit den Kindern durchzuführen, damit diese an den Entscheidungen beispielsweise zu (räumlichen) Veränderungen innerhalb der Einrichtung oder bei der Auswahl eines Ausflugsziels partizipieren können.
    • die generelle Einbindung von Mitbestimmungselementen in den Kita-Alltag, z.B. wenn es um die Spielgestaltung, um Gruppenregeln oder die Interaktion mit den Erzieher*innen geht. Grundsätzlich ist dabei auch darauf zu achten, dass jedes Kind gesehen wird, auch wenn es beispielsweise aufgrund von Sprachbarrieren nicht jede Form der Mitbestimmung wahrnehmen kann.
  • Für eine angemessene digitale Bildung fordern wir:
    • massive Investitionen in digitale Infrastruktur, Entwicklung und Bereitstellung guter digitaler Lernsoftware und -hardware und entsprechender Lerninhalte sowie ein umfangreiches Aus- und Fortbildungsprogramm für Lehrkräfte. Darüber hinaus braucht es zusätzliches Fachpersonal, das bei der Implementierung und kontinuierlichen Begleitung der Hard- und Software unterstützt.
  • Beste Bildung braucht ungebremste Investitionen, damit
    • der Schulneubau und die teilweise dringend notwendige -sanierung ausreichend finanziert ist.
    • wir durch einen deutlichen Ausbau der Betreuungsplätze an Kitas und Ganztagsschulen endlich den Rechtsanspruch auf Kita- und Ganztagsplätze erfüllen.
    • wir die Gebührenfreiheit von der Kita bis zum Abschluss gewährleisten. Darüber hinaus wollen wir jedem Kind eine Sportvereinsmitgliedschaft für ein Jahr, einen kostenfreien Büchereiausweis über die gesamte Schulzeit sowie ein kostenloses warmes und gesundes Mittagessen finanzieren.
    • Ungleiches auch ungleich behandelt wird. Durch einen einrichtungsscharfen Sozialindex wollen wir dafür sorgen, dass zusätzliches Geld und Personal da ankommt, wo es am dringendsten benötigt wird.
  • Beste Bildung braucht bestes Personal. Das heißt für uns:
    • Wir brauchen mehr Personal an den Kitas und Schulen, um eine bestmögliche Betreuung zu gewährleisten. Multiprofessionelle Teams, die Lehrkräfte, Assistenzen und Sozialpädagog*innen umfassen, müssen an den Schulen NRWs zum Standard werden.
    • Wir werden prekäre Arbeitsbedingungen im Bildungssystem beseitigen. Dazu gehört die Entfristung von befristeten Verträgen und die Bezahlung nach Tarifverträgen für alle erzieherischen und pädagogischen Akteur*innen in den verschiedenen Funktionen. Außerdem fordern wir A13 als Einstiegsgehalt für alle Lehrer*innen unabhängig von der Schulform.
    • Gerade die Schulsozialarbeit werden wir ausfinanzieren und durch eine Personaloffensive, inklusive der Entfristung der Verträge und einer anständigen Bezahlung, dafür sorgen, dass ihre wichtigen Beratungs- und Betreuungsangebote flächendeckend zur Verfügung stehen.
    • In der frühkindlichen Bildung muss die Ausbildung endlich vergütet und die Fort- und Weiterbildung verbessert und ausgebaut werden. Auch in den Grund- und den weiterführenden Schulen brauchen wir ein breites Fort- und Weiterbildungsangebot für unsere Lehrkräfte.
  • Die Rückkehr zum Prinzip „Kein Kind zurücklassen“. Das heißt für uns:
    • Das flächendeckende Berufsorientierungsprogramm „Kein Abschluss ohne Anschluss“ (KAoA) muss so weiterentwickelt werden, dass wirklich niemand mehr beim Übergang von der Schule in den Beruf auf der Strecke bleibt. Dazu braucht es zielgruppenspezifischere, lebensweltorientierte und zusätzlich digitale Angebote für diejenigen, die das Programm zurzeit nicht erreicht: junge Menschen, die innerlich mit der Schule abgeschlossen haben und kaum noch erscheinen; junge Menschen mit Fluchterfahrung, die erst im Laufe der Berufsorientierung dazustoßen und bei denen ggf. Sprachbarrieren vorliegen sowie Jugendliche, die zwar Schwierigkeiten beim Schulabschluss haben, aber hochmotiviert eine Ausbildung beginnen möchten. Ziel des so weiterentwickelten KAoA muss es sein, dass junge Erwachsene nicht endlos Maßnahmen absolvieren, sondern so gefördert werden, dass sie den beruflichen Werdegang einschlagen können, den sie einschlagen möchten.
  • Den schwarz-gelben Roll-Back in der Hochschulpolitik abwickeln. Dazu fordern wir:
    • die Abschaffung von Anwesenheitspflichten, die nicht zu einem freien und selbstbestimmten Studium passen.
    • eine konsequente Demokratisierung der Hochschulen. Ob im Senat oder in den Kommissionen – wir fordern die paritätische Besetzung der Gremien. Auch bei Entscheidungen des Rektorats brauchen Studierende durch eine*n studentische*n Prorektor*in Mitspracherecht. Schließlich dürfen Entscheidungskompetenzen nicht in extern besetzte Runden wir den Hochschulrat verlegt werden. Und die SHK-Vertretungen müssen bleiben.
    • Frauen in die Lehrstühle. Wir fordern konkrete Maßnahmen zur Förderung von Frauen in der Wissenschaft. Dazu gehören Mentoringprogramme und Karriereberatungsstellen für Frauen, eine verbindliche Frauenquote von mindestens 50 % bei Neueinstellungen und eine Stärkung des Einflusses von Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten.
    • Diversität an Hochschulen: Genauso wie Schulen, weisen auch Hochschulen deutliche Diversitätsmängel auf. Einige Hochschulen haben sich in der Vergangenheit vorbildlich mit einem Diversitätmanagement auseinandergesetzt. Das ist allerdings nicht flächendeckend zu erkennen. Genauso wie an Schulen, fordern wir deshalb, dass Hochschulen diskriminierungsfreie Hochschulstrukturen schaffen sollten. Für ein Diversitäts- und Antidiskriminierungsmanagement sind folgende Aspekte entscheidend: die Schaffung von verpflichtenden Diversitätssensibilisierungsangeboten für Dozierende und Studierende, die Schaffung von Antidiskriminierungsstellen und die Vermittlung von diversitätssensiblen und rassismuskritischen Lerninhalten.
    • gute Arbeit an den Hochschulen durch eine Bundesratsinitiative zur Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes. Es muss Schluss sein mit prekären Beschäftigungsverhältnissen durch immer wieder neue befristete Verträge und Arbeitszeiten, die einem selbstverwirklichten Leben z.B. in Form von Familie entgegenstehen.
    • eine Bundesratsinitiative für ein elternunabhängiges BAföG sowie eine Rückkehr zum Vollzuschuss.
    • eine Ausfinanzierung der Studierendenwerke, sodass die Semesterbeiträge bezahlbar bleiben und ausreichend bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden kann.

Gute Arbeit und Ausbildung

Arbeit ist in unserer Gesellschaft, im Leben jeder und jedes Einzelnen und für unseren Verband zentral. Erwerbsarbeit strukturiert unsere Biographien und unseren Alltag, hat großen Einfluss auf unser Sozialleben und ermöglicht ökonomische Partizipation.

Deshalb ist es von elementarer Bedeutung für unser jungsozialistisches Verständnis einer gerechten Gesellschaft, dass Arbeit gute Arbeit ist: Faire Arbeitsbedingungen, echte Mitbestimmung, gerechte Entlohnung und grundsätzlich zugänglich für alle. Berücksichtigt werden muss dabei auch, dass Care-Arbeit und Erwerbsarbeit in einem sich wechselseitig beeinflussenden Verhältnis stehen und Gender-Unterschiede dadurch entweder verringert oder vergrößert werden können.

Für junge Menschen gibt es vor allem zwei Wege ins Berufsleben: Studium oder Ausbildung. Besonders auf das Thema Ausbildung wollen wir einen Fokus legen. Das System der dualen Ausbildung genießt in Deutschland (und teils auch international) ein hohes Ansehen, sowohl bei Ökonom*innen als auch Arbeitgeber*innen und Gewerkschaften. Doch das System hat auch strukturelle Schwächen, die seit Beginn der Coronapandemie besonders deutlich geworden sind.

2020 sind die Auszubildendenzahlen um 11% gesunken. Dass es „nur“ 11% waren, ist dabei wohl den zahlreichen staatlichen Maßnahmen zu verdanken, die ergriffen worden sind . Doch was ist, wenn diese Maßnahmen auslaufen? Eine Insolvenzwelle droht und könnte bis zu 25.000 Unternehmen betreffen. Nicht ausgenommen davon sind Unternehmen, die Staatshilfe erhalten haben. Und eine aktuelle Betriebsbefragung ergab, dass 10% der Betriebe aufgrund der Krise weniger oder gar keine Ausbildungsplätze mehr anbieten wollen. Im Juli gab es laut Bundesagentur für Arbeit in NRW 38.555 junge Menschen, die noch auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz waren. Hinzu kommt, dass Berufsorientierung und Ausbildungsvermittlung während der Pandemie nicht ausreichend stattgefunden hat, sodass Ausbildungsinteressierte und Unternehmen nicht zusammengefunden haben.

Der Berufsbildungsbericht 2021 zeigt zudem, dass junge Menschen mit Migrationsgeschichte überproportional häufig keinen geeigneten Ausbildungsplatz finden. Von den Bewerber*innen ohne Migrationsgeschichte waren 9% erfolglos und mussten sich arbeitslos melden. Hatten die Bewerber*innen eine Migrationsgeschichte, lag diese Quote bei 16%.

Dabei kommt dem Finden eines Ausbildungsplatzes eine hohe Bedeutung zu. Ohne Berufsqualifikation sinken die Chancen auf wirtschaftliche Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben massiv. So können gesamtgesellschaftliche Ungerechtigkeiten zementiert werden, wovon aber nicht alle gesellschaftlichen Gruppen gleich tangiert werden.

Die Aussichten sind also nicht gut. Wer allerdings einen Blick in den letzten Berufsbildungsbericht wirft, wird feststellen, dass es schon vor der Pandemie erhebliche Probleme gab: In Branchen mit guten Arbeitsbedingungen fehlen Ausbildungsplätze, in Branchen mit schlechten Arbeitsbedingungen gibt es offene Stellen, die viele Jugendliche aber zurecht nicht antreten wollen. Fachkräftemangel kann auch selbstverschuldet produziert werden.

Um den Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden, um zu ermöglichen, dass alle die Chance auf gute Arbeit haben, die zu den individuellen Vorstellungen eines guten Lebens passen und damit insbesondere das Ausbildungssystem besser gestaltet wird als heute, fordern wir:

  • Eine bundesweite, umlagefinanzierte Ausbildungsgarantie. NRW soll mit Modellprojekten vorangehen und überbetriebliche Ausbildungsstätten schaffen. Dort können Jugendliche eine vollqualifizierende Berufsausbildung machen, wenn sie auf dem regulären Arbeitsmarkt keinen geeigneten Ausbildungsplatz erhalten haben.
  • Berufsschulen, die sich in baulich gutem Zustand befinden, gut ausgestattet sind und über genügend gut qualifizierte Lehrer*innen verfügen.
  • Die Erweiterung und den flächendeckenden Ausbau von Berufsorientierungsangeboten, die junge Menschen da erreicht, wo sie sind und die digitaler und aufsuchender werden
  • Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich und familienfreundlichere Arbeitszeitmodelle.
  • Eine gerechtere Verteilung von unbezahlter Pflege- und Familienarbeit zwischen Männern und Frauen.
  • Die Anpassung des Arbeits- und Sozialrechts an den digitalen Wandel und für klare Regeln beim Homeoffice.
  • Die Förderung von Betriebsratsgründungen, die Stärkung der Rechte von Betriebsräten und Gewerkschaften sowie eine Ausweitung der betrieblichen und Unternehmens-Mitbestimmung
  • Die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Fördermitteln ausschließlich an Unternehmen, welche zu den Grundsätzen von Tariftreue und Mitbestimmung
  • Weiterbildung zu stärken. Es muss ein Recht auf Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen geben. Zudem müssen die Hochschulen in NRW systematisch für beruflich Qualifizierte geöffnet und die berufsbegleitenden Weiterbildungsangebote durch die NRW-Hochschulen ausgeweitet werden.
  • Mitarbeiter*innen die Beteiligung am Unternehmenskapital zu fördern.
  • Mehr Stellen beim Arbeitsschutz.
  • Stärkung des sozialen Arbeitsmarkts, insbesondere über die Instrumente §16e und §16i des SGB II.

Sozial-ökologische Transformation als Erfolgsgeschichte

Sommerwetter im Februar und Mai, Schneechaos im April, Rheinhochwasser im Januar, eine Hitzewelle mit tropischen Temperaturen im Juni und die verheerenden Regentage im Juli, dazu immer wieder orkanartige Stürme und Unwetter. NRW hat 2021 ein Jahr der Wetterextreme erlebt. Weltweit steigt die Anzahl der Extremwetterereignisse und Naturkatastrophen beinahe kontinuierlich an. Schon seit vielen Jahren wissen wir: Der menschengemachte Klimawandel verursacht diese Wetterextreme.

Als Land NRW haben wir in diesem Jahr vielleicht so klar wie noch nie gesehen, was es bedeutet, wenn wir unser Leben und unsere Wirtschaft nicht umstellen, wenn wir keine Rücksicht auf die Natur und die uns nachfolgenden Generationen nehmen. Es ist Zeit für einen echten Aufbruch!

2020 hat alleine NRW 203,5 Millionen Tonnen CO2 ausgestoßen. Bundesweit sind es 739 Millionen Tonnen an Treibhausgasen gewesen. Diese Zahlen zeigen die große Verantwortung unseres Bundeslandes. Für die Bilanz positiv war die schlechte wirtschaftliche Lage aufgrund der Corona-Pandemie im vergangenen Jahr. In diesem Jahr müssen wir wieder einen Anstieg der klimaschädlichen Gase fürchten.

Es gilt also unser Wirtschaften zu verändern. Sozial und ökologisch verträglich soll unser Land in Zukunft wirtschaften. Dazu braucht es massive Investitionen, um einen Umbau der Wirtschaft voranzutreiben. Die Energiewende muss einen neuen Anschub erfahren. Dabei wollen wir jedoch auch neue Arbeitsplätze schaffen. NRW muss einen weiteren Strukturwandel managen und kann sich ein Scheitern aufgrund einer Sparpolitik nicht leisten. Als Zukunftsland wollen wir innovative Projekte ermöglichen, die Digitalisierung voranbringen, klimaneutrale Produktion fördern und an der Zukunft forschen. Dafür braucht es jedoch einen starken Staat, der sich traut mitzureden. Ein Staat, der den Unternehmen einen Weg in eine saubere und soziale Zukunft weist. Unser Land darf nicht am Rand stehen, wenn Manager*innen und Aktionär*innen schlicht profitorientiert in die nächsten Jahrzehnte blicken, sondern muss unter der Bedingung von guter Arbeit und ressourcenschonendem Verbrauch von Rohstoffen aktiv den Markt steuern.

Die sozial-ökologische Transformation bietet Umweltschutz und ein besseres Morgen für uns alle. Ein derart wichtiges Zukunftsprojekt darf NRW nicht verschlafen. Konservative und liberale Kräfte werden niemals ein gesteigertes Interesse an den Aufgaben von Morgen haben, solange es im jetzt noch Möglichkeiten zur Weiterentwicklung des Kapitalismus gibt. Wohin uns das führt, haben wir in 2021 schmerzlich erfahren. Daher liegt es an uns, die Industrie in NRW so aufzustellen, auf dass Morgen ein besserer Tag sein wird.

Damit die sozial-ökologische Transformation eine Erfolgsgeschichte wird, fordern wir:

  • einen Staat, der den Wandel aktiv gestaltet, indem er:
    • ein Staatsverständnis zu Grunde hat, in dem er Marktprozesse aktiv steuert und auf gute Arbeit und geringen Ressourcenverbrauch Wert legt.
    • eine starke industriepolitische Planung vorlegt, die Entwicklungsziele, technisch anspruchsvolle Benchmarks, Förderprogramme und Sanktionen beinhaltet.
    • Grenzwerte, Grenzmengen und Technologieverbote bei umweltschädlichen Produkten festlegt.
    • umweltschädliche Subventionen streicht und eine sozial ausgestaltete CO2-Bepreisung sichert.
    • einen neuen Indikator zur wirtschaftlichen Steuerung entwickelt, der finanzielle, soziale und ökologische Aspekte berücksichtigt.
    • international für besseren Klimaschutz kämpft, da Treibhausgase nicht an nationalen Grenzen halt machen.
    • das Pariser-Klimaabkommen ernst nimmt und sich in seinem Handeln an diesem immer orientiert.
    • einen staatlichen Transformationsfonds zum sozial-ökologischen Umbau der Industrie in NRW, um:
      • die Bereitschaft zur klimaneutralen Produktion im Land schnell zu fördern und durch zusätzliche Investitionen in Forschung der Industrie ein modernes Angebot zu machen.
      • innovative Ideen nicht am Kapitalmangel oder fehlender Risikobereitschaft scheitern zu lassen.
      • durch zeitlich begrenzte Unternehmensbeteiligungen des Landes an kleinen und mittleren Unternehmen diese taktisch zu stärken.
      • in Beiräten zur Transformation vor Ort mit den Partner*innen aus der Gesellschaft und Kommunalpolitik den Wandel zu gestalten.
      • Insbesondere Unternehmen zu fördern, die sozial verantwortlich arbeiten, da finanzielle Unterstützung künftig auch an derartige Aspekte geknüpft sein soll.
    • eine solidarische Energiewende. Für uns bedeutet das:
      • mehr Solaranlagen auf freien Flächen und den Ausbau von Windenergie.
      • kein Versperren vor Windkraftanlagen, sondern intensiver Ausbau mit staatlicher Förderung, um den stockenden Ausbau anzutreiben. Pauschale Mindestabstände sind kontraproduktiv.
      • den Ausbau von Fernwärme und die Förderung von Kraft-Wärme-Kopplung.
      • den massiven Ausbau von Arbeitsplätzen für die erneuerbaren Energien bis 2030, um zukunftssichere und unserer Zeit entsprechende Arbeitsplätze für die Menschen in NRW zu schaffen.
      • die umfangreiche, dezentrale und ökologische Produktion von grünem Wasserstoff in NRW, sowie die Schaffung einer entsprechenden Infrastruktur von Rohrleitungen zum Transport.
      • Forschung an Speicherkapazitäten in NRW, um jederzeit Versorgungssicherheit garantieren zu können. Dabei müssen die Speichertechnologien, wie auch unser Energie-Mix, divers aufgestellt sein, um störungsunanfällig zu sein und die Vorteile verschiedener Speichertechnologien zu nutzen.
      • erneuerbare Energien werden bis 2030 Grundlage unserer Stromversorgung.
      • die Vernetzung und Förderung für die Energiewende relevanter Industrien.
      • eine nationale Debatte zur gemeinsamen Gestaltung der Energiewende zu initiieren.
    • aus Pilotprojekten landesweite Erfolgsmodelle zu gestalten.
      • Vorbilder, wie die „Innovation City Bottrop“, in der ein ganzer Stadtteil klimagerecht umgebaut wird bei gleichzeitiger Sicherung des Industriestandortes, müssen Schule machen und im gesamten Land Nachahmer*innen finden.
      • Die Finanzierung dieser Projekte muss jedoch überdacht werden, da diese einmaligen Situationen die städtischen Haushalte ansonsten auf Generationen massiv belasten.
      • Zu beachten ist, dass wir keinen Wettbewerb zwischen den Kommunen schaffen, da Klimaschutz höhergestellt sein muss als jedweder Wettbewerbsgedanke und die Planungshoheit bei den Städten liegt. Das Land kann hier nur beraten.
    • den Ausbau der Digitalisierung NRWs. Konkret bedeutet dies:
      • eine flächendeckende Versorgung mit 5G in unserem Land; Investitionen in Glasfasernetze und Breitbandanschlüsse.
      • den vermehrten Einsatz von open-source Lösungen, insbesondere in der Landesverwaltung.
      • die IT-Sicherheit voran zutreiben, indem in NRW geforscht wird, wie wir unsere Daten und digitale Infrastruktur bestmöglich vor Angriffen und Unternehmen schützen.
      • Den Aufbau von Strukturen, welche nachhaltig die Software-Branche im Allgemeinen und die boomende Gaming-Branche im Speziellen in NRW fördern und ausbauen. Diese unterstützen nicht nur finanziell – bei Gaming-Unternehmen ähnlich zur Filmförderung – sondern helfen auch bei der Ansiedlung und Neugründung von Software-Unternehmen in NRW.
    • auch Mobilität als zwingenden Bestandteil der sozial-ökologischen Transformation zu begreifen und entsprechende Schritte einzuleiten. Diese lauten:
      • Mobilität müssen wir als Grundrecht anerkennen, dass es braucht, damit ein jeder Mensch an der Gesellschaft teilnehmen kann.
      • Bundesweit wollen wir bis 2030 das engmaschigste Mobilitätsangebot der Welt schaffen – in NRW beginnen wir damit! Dafür wollen wir sicherstellen, dass vom Thema Mobilität nicht nur die Ballungszentren profitieren, sondern auch der ländliche Raum zu jeder Zeit mitgedacht wird. Hier bedarf es eines dringenden Ausbaus. Dieser wird nur durch ungebremste Zukunftsinvestitionen ermöglicht.
      • Der ÖPNV der Zukunft muss schnell Menschen von A nach B transportieren, fahrscheinlos, günstig – langfristig auch kostenfrei – sein, um eine ernsthafte Alternative zum Individualverkehr mit dem PKW Die Netze müssen dafür erweitert werden – sowohl in den Städten, als auch im ländlichen Raum.
      • Neben dem ÖPNV müssen auch der SPNV und die Güterzugnetze ausgebaut werden. Mit massiven Investitionen schaffen wir ein neues Jahrzehnt der Schiene in NRW und verlagern so Güter- und Personenverkehr von den überfüllten Straßen, auf die neu gebauten Schienen. Getrennte Netze sollen künftig verbunden und stillgelegte Strecken wieder reaktiviert werden.
      • Alle diese Maßnahmen werden in ländlichen Regionen auf absehbare Zeit dennoch den PKW nicht vollständig ersetzen können. Daher muss hier eine Umstellung von fossilen Antrieben hin zu Elektro, power-to-x und vor allem Wasserstoff erfolgen. Hier wollen wir, dass die Kommunen und Körperschaften öffentlichen Rechts voranschreiten und künftig ihre Fuhrparks auf H2-Antreib umstellen. In einem zweiten Schritt sollen staatliche Förderungen Wasserstofffahrzeuge auch für Privatpersonen unkompliziert ermöglichen.
    • der jetzige Strukturwandel muss ein Erfolgsmodell für die betreffenden Orte werden. Dies schaffen wir, indem:
      • die Flächen des rheinischen Tagebaurevier durch den Staat entwickelt werden. Dabei müssen soziale und ökologische Fragestellungen zusammengedacht werden, um weder die Kumpel ins Bergfreie fallen zu lassen, noch die Schäden an der Natur nicht zu beheben.
      • keine erneute Monokultur in der Industrie entsteht.
      • wir wirklich tragfähige Konzepte für die betroffenen Regionen zur Umstrukturierung der Wirtschaft entwickeln, die keine Deindustralisierung der Orte bedeutet.

      Fazit

      Mit diesem Antrag haben wir entlang der drei gesetzten Schwerpunkte unsere wichtigsten Forderungen an das Zukunftsprogramm der NRWSPD zur Landtagswahl aus Sicht der jungen Generation formuliert. Mit unseren Vorstellungen von Bildung für alle, wollen wir für Zukunftschancen von Beginn an sorgen. Mit klaren Forderungen für Gute Arbeit und Ausbildung geht es uns um Perspektiven für junge Menschen in der spannendsten Phase ihres Lebens, wenn es darum geht, selbstständig den Weg zu gehen, den man gehen möchte. Und mit einer sozial-ökologischen Transformation als Erfolgsgeschichte werden wir dafür sorgen, dass die ökologischen Grundlagen NRWs gewahrt bleiben und Nordrhein-Westfalen auch in Zukunft ein starkes Industrieland ist, das die Energiewende meistert und Wohlstand garantiert.

      Wir werden uns weiter intensiv in den Programmprozess der Partei einbringen und erwarten die Berücksichtigung unserer inhaltlichen Vorstellungen. Denn wir stehen bereit, gemeinsam mit unserer Mutterpartei dafür zu sorgen, dass im Westen wieder die Sonne aufgeht. Wir stehen bereit, die schwarz-gelbe Landesregierung, die sich vor allem mit der Darstellung von Politik beschäftigt und dabei Zukunftschancen für NRW verhindert, abzulösen. Und wir stehen bereit, dafür zu sorgen, dass eine sozialdemokratisch geführte Landesregierung nach der Wahl endlich anpackt.

      W2 Einhaltung des Pariser Klimaabkommens

      6.09.2021

      Wir fordern, dass das Land NRW das 1,5-Grad-Ziel einhält und sich dafür zu einem CO2- Budget von 0,9 GT CO2 verpflichtet. In NRW ist Klimaneutralität bis spätestens zu einem Zeitraum von 2035-2040 zu erreichen, Leitprinzip hat dabei zu sein: Je früher, desto besser.

      Wir fordern, dass in NRW für die Erreichung dieses Zieles die Klimagerechtigkeit als Leitlinie verankert wird. Das Leben der jüngsten Generationen hat den gleichen Stellenwert einzunehmen wie das der ältesten. Wer das Klima am stärksten schädigt muss zum Klimaschutz am meisten beitragen. Das Land NRW muss sich dafür einsetzen, den Klimaschutz sozial gerecht zu machen.

      Wir fordern, dass das Land NRW sofort auf allen Ebenen Landesausgaben und Regulierungen dahingehend prüft, ob sie mit dem Erreichen des 1,5-Grad-Ziels vereinbar sind. Ist dies nicht der Fall, hat das Land NRW diese Ausgaben einzustellen und durch Programme zu ersetzen, die einen sozial gerechten Klimaschutz ermöglichen.

      O3 “Why we matter” - Für mehr Repräsentation und Teilhabe für BPoC in unserem Verband

      6.09.2021

      Anfang 2021 veröffentlichte Emilia Roig ihr Buch “Why we matter. Das Ende der Unterdrückung”, in dem sie die Bewusstwerdung von Privilegien dominanter gesellschaftlicher Gruppen wirbt und Perspektivwechsel einfordert. Auch wir haben uns schon mit den im Verband dominierenden weißen Strukturen auseinandergesetzt. „Raus aus Happyland“ – unter diesem Titel wurde im November 2020 auf dem Juso-Bundeskongress ein Antrag zur antirassistischen Arbeit beschlossen. Es ging vor allem um einen Anstoß der Debatte um Rassismus und seine Bekämpfung innerhalb des Verbands, „denn in unserer Gesellschaft sowie unserem Verband stehen wir gerade am Anfang einer aktiven Diskursverschiebung, in der BPoC nicht mehr hinnehmen werden, dass nur über sie und nicht mit ihnen gesprochen wird“. Daraufhin hat sich schon etwas getan: Online-Interviews, öffentliche Gesprächsrunden und Vernetzungstreffen. Um auf dem Weg „raus aus Happyland“ weiterzukommen, braucht es aber auch institutionelle Veränderung. BPoC müssen überall vertreten sein: auch (und erst recht) in Vorständen und Gremien. Es geht dabei um Repräsentation, aber vor allem um Teilhabe an Entscheidungen und den Einbezug verschiedener Perspektiven auf allen Ebenen. Was im November 2020 beschlossen wurde, möchten wir erneut unterstreichen und bekräftigen: Es reicht nicht, „BPoC sichtbarer zu machen. Sie müssen auch hinter den Kulissen mitarbeiten können. Nur so trägt man zu einer strukturellen Veränderung bei, die BPoC tatsächlich fördert“.

      Immer wieder wird deutlich wie wichtig Repräsentation ist. In NRW hat fast jede dritte Person einen interkulturellen Hintergrund bzw. hat fast jede dritte Person Migrationsgeschichte. Dieses Bild geben aber nicht nur unsere Stadträte und unser Landtag dürftig wieder, sondern auch die Vorstände in unserem Verband. Da besteht bei uns auf jeden Fall noch Entwicklungsbedarf. Es kann nicht sein, dass es bei uns immer noch rein weiße Vorstände gibt. Wir sehen, dass es in ländlichen Regionen wirklich schwer sein kann, BPoC für die Vorstände zu gewinnen aber in Großstädten müssen rein weiße Vorstände der Vergangenheit angehören.

      Weiter wollen wir in unserem Verband zukünftig eine Debatte über Quoten für BPoC führen.

      Aber nicht nur innerhalb der Jusos muss dieses Vorhaben bestrebt werden, wir tragen als Jusos auch eine Verantwortung, innerhalb der SPD für mehr Repräsentation von BIPoC zu sorgen.

      Wir müssen uns unserer Verantwortung noch stärker bewusst werden und lernen wie wir dieser besser gerecht werden. Dafür muss Antirassismus eine weiterer Grundpfeiler unseres Verbands werden und wir müssen mehr antirassistische Bildungsarbeit in unserem Verband leisten.

      O2 Weil Sprache Wirklichkeit schafft – ein Konzept für diskriminierungsfreie Sprache

      6.09.2021

      Diskriminierungsfreie Sprache

      Sprache hat in unserer Gesellschaft eine wichtige Funktion. Mit ihrer Hilfe verständigen wir uns und bringen Positionen zum Ausdruck. Sprache schafft Wirklichkeit, sie kann gesellschaftliche Zustände manifestieren und dazu beitragen, dass bestimmte Menschen unsichtbar gemacht oder abgewertet werden. Diskriminierungen, die bestimmte Gruppen seit Jahrhunderten erfahren, werden oft auch sprachlich aufgegriffen und reproduziert.

      Bei vielen privilegierten Personen löst die Forderung nach diskriminierungsfreier Sprache eine reflexartige Abwehr aus, weil es darum geht, Diskurshoheit abzugeben und sich vermeintlichen „Sprechverboten“ hinzugeben. Abgesehen davon, dass diese Abwehr die beste Begründung dafür ist, sich für diskriminierungsfreie Sprache einzusetzen, zeigen zahlreiche Studien, dass beispielsweise die Verwendung geschlechtsneutraler Sprache beeinflusst, wie Menschen Geschlechternormen und Gleichstellungsthemen beurteilen. Bei Kindern hat gegenderte Sprache Einfluss darauf, dass sie sich von gesellschaftlich normierten „Frauen“ oder „Männerberufen“ lösen und unterschiedlichste beruflichen Ziele für sich in Betracht ziehen.

      Strukturelle Diskriminierungen finden auch und oft viel intensiver außerhalb von Sprache statt, die es an anderer Stelle zu bekämpfen gilt. Mit der umfassenden Verwendung diskriminierungsfreier Sprache können wir NRW Jusos aber Voraussetzungen dafür schaffen, durch Sichtbarkeit und Sensibilisierung Abwertungsmechanismen aufzuzeigen und effektiv zu bekämpfen.

      Gendergerechte Sprache

      Geschlecht ist eine soziale Konstruktion und wird insbesondere durch das in vielen Bereichen präsente binäre Geschlechtersystem als binäres Konstrukt aufrechterhalten. Wir wollen durch Sprache Sichtbarkeit und Repräsentanz schaffen und deshalb konsequent unsere Sprache gendern.

      Die Benutzung gendergerechter Sprache praktizieren wir Jusos schon lange und auch außerhalb unseres Verbandes etwa in bestimmten Medien wird Gendern (teilweise) zur Selbstverständlichkeit. Die Arten und Weisen gendergerecht zu schreiben sind vielfältig und wir sind uns bewusst, dass es keine perfekte, alle Bedürfnisse inkludierende, Form gibt. Als NRW Jusos wollen wir aber einheitlich gendern und uns auf die Formen festlegen, die wir als Landesverband bei allen Schriftstücken, die veröffentlicht werden, verwenden:

      • Wo es sich anbietet, benennen wir die Personenkreise, die wir meinen, direkt
      • Wir gendern mit * wenn es um Substantive geht (Busfahrer*innen): hier ist das * dazu da, nicht-binäre Personen zu inkludieren. Diese Form des Genderns, die aus LGBTIQA+-Communities kommt und hier benutzt wird, halten wir am geeignetsten.
      • Wir verwenden kein Sternchen hinter einer Personenbezeichnung (Frauen*), um mit dem * Geschlecht als Konstrukt zu markieren oder Transpersonen miteinzuschließen, weil Transfrauen Frauen und Transmänner Männer sind.
      • Wenn wir alle vom Patriarchat unterdrückten Gruppen meinen, beispielsweise um sichtbar zu machen, für welche Personen die safer spaces auf Veranstaltungen gedacht sind, sprechen wir von FINTA-Personen (Frauen-, Inter-, Non-Binär-, Trans- und Agender- Personen).
      • Für politische Debatten kann es hilfreich sein, auf die zusammenfassende Form FINT zu verzichten und auch hier klar zu benennen, wen wir meinen. „Das politische Subjekt Frau“ ist innerhalb feministischer Kämpfe ein wichtiger Bezugspunkt, der sichtbar bleiben muss. Wenn es beispielsweise um das Thema Reproduktion geht und Diskriminierungen, die mit diesem Thema einhergehen, ist es wichtig, von Frauen bzw. „Frauen und Gebärende“ zu sprechen, um sichtbar zu machen, dass Diskriminierung beim Thema Reproduktion auf der Grundlage des Frau-Seins entsteht und nicht auf Grund der Gebärfähigkeit. Dennoch sind gebärfähige Menschen, die keine Frauen sind, von diesen Diskriminierungen betroffen, sie gilt es ebenfalls sichtbar zu machen. Genauso muss anerkannt und sichtbar gemacht werden, dass es auch Frauen gibt, die nicht gebärfähig sind.
      • Das gendern mit : ist den letzten Jahren immer beliebter geworden. Als NRW Jusos halten wir diese Form für weniger geeignet, da sie nicht barriereärmer als andere Gender-Formen, bei denen Sonderzeichen genutzt werden, ist. Die Screenreaderfreundlichkeit, also der barrierearme Zugang zu Texten ist damit aber ebenfalls nicht unbedingt gegeben. Sie wird außerdem auch häufig im Textfluss übersehen und überlesen. Immer häufiger wird diese Form benutzt, weil sie als eleganteste gilt, was aber auch darauf zurückzuführen ist, dass sie nicht so auffällig ist. Für uns steht aber fest, dass Gendern ruhig auffällig sein darf, damit es zur Sichtbarkeit von lange unterdrückten Personengruppen kommt. Letztendlich muss es aber darum gehen, technische Möglichkeiten weiterzuentwickeln, um alle Formen der gendergerechten Sprache für alle lesbar zu machen.
      • Auch queere Menschen werden von unserer Gesellschaft noch oft diskriminiert, da sie nicht zu der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft gehören. Für uns ist klar, dass es mehr als Heterosexualität und Homosexualität gibt. Um auch eine einheitliche Bezeichnung für queere Menschen zu finden, wollen wir eine Form festlegen, wie wir die queere Szene ansprechen. Auch hier gibt es unterschiedliche Formen, wobei keine von diesen Vollständigkeit beanspruchen kann. Wir wollen uns dennoch auf die Bezeichnung LBGTIQA+ (Lesbian, Bi, Gay, Trans, Inter, Queer, Asexual) einigen, da wir bei dieser Form die meisten Sexualitäten und sexuellen Identitäten wiedergefunden sehen.

        Rassismusfreie Sprache

        Zu Rassismus gehört auch, dass nicht-weiße Menschen durch Weiße seit Jahrhunderten durch Sprache und Begriffe abgewertet werden. Nicht-Weiße werden mit Fremdbezeichnungen beschrieben und herabgewürdigt. Für uns ist klar, dass Fremdbezeichnungen rassistisch und abzulehnen sind. Nicht-Weiße Menschen nennen sich BIPoC, also Black, Indigenous and People of Color. „Schwarze Menschen“ ist auch eine Selbstbezeichnung. „Schwarz“ wird aber immer großgeschrieben, um deutlich zu machen, dass es nicht um die Farbe, sondern um ein soziales Konstrukt geht. Das Wort „Rasse“ ist im Deutschen sehr belastet. Es kann nicht losgelöst von der rassistischen Ideologie, dass es unterschiedliche biologische Rassen gibt, benutzt werden. Anders ist es mit dem englischen Wort Race. Hier ist klar, dass es sich um ein soziales Konstrukt handelt und wird auch von antirassistischen Autor*innen benutzt.

        „Menschen mit Migrationshintergrund“ ist keine Selbstbezeichnung, aber in Deutschland gibt es kaum Daten zur BIPoC, nur zu „Menschen mit Migrationshintergrund“, das heißt, wenn wir in Zahlen über Diskriminierung/Rassismus sprechen wollen, können wir in Deutschland schwer über BIPoC reden. Außerdem gibt es auch weiße Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund, die von Diskriminierung betroffen sind, z.B. Ost- und Südeuropäer*innen oder Russ*innen, die weiß markiert sind. Wir vermeiden trotzdem die Fremdbezeichnung „Menschen mit Migrationshintergrund“ und bevorzugen dann „Menschen mit Migrationsgeschichte“.

        Auch wenn in Medien leider immer noch viel diskutiert wird, ob es in Ordnung ist, die Fremdbezeichnung für Sinti*zze und Rom*nja zu benutzen, ist für uns NRW Jusos klar: diese Fremdbezeichnung ist rassistisch und mit langer Verfolgung gegen Sinti*zze und Rom*nja, die im Genozid (Porajmos) durch die Nationalsozialisten gipfelte, verbunden. Vermehrt wird deswegen auch unter Sinti*zze und Romn*ja über den Begriff „Antiziganismus“ kontrovers diskutiert. Für einige macht der Begriff die Verfolgung der Sinti*zze und Rom*nja sichtbar, für andere ist der Begriff aber eine Reproduzierung der Fremdbezeichnung und sie wollen lieber von Rassismus gegen Sinti*zze und Rom*nja sprechen. Hier ist es wichtig, weiter mit der Community im Austausch zu bleiben und ggf. zukünftig die Reproduzierung der Fremdbezeichnung zu vermeiden.

        Jüdinnen*Juden ist eine Selbstbezeichnung. Offener Antisemitismus ist in weiten Teilen der Gesellschaft nicht akzeptiert.  Das heißt aber natürlich nicht, dass es keine antisemitische Sprache mehr gibt. Deswegen ist es wichtig hinsichtlich antisemitischer Narrative, Wörter, Redewendungen und versteckter Codes zu sensibilisieren.

        Ableismusfreie Sprache

        Menschen mit Behinderung ist eine Selbstbezeichnung. Es soll deutlich gemacht werden, dass die Behinderung Teil der Person ist, aber nicht das Einzige ist, was sie ausmacht. Ableistische Sprache ist sehr verbreitet. Es gibt viele Schimpfwörter, die benutzt werden, um Menschen mit Behinderung abzuwerten. Auch psychisch kranke Menschen werden immer wieder in der Sprache stigmatisiert. Besonders bei Anschlägen oder Amokläufen wird das deutlich.

        Klassismusfreie Sprache

        Menschen mit einem niedrigen Bildungsabschluss und/oder wenig finanziellem Einkommen werden mit Begriffen wie „Prolet*in“ oder „Asi“ abgewertet. Wir lehnen diese Begriffe ab. Auch die Abwertung von Umgangssprache und Dialekten ist klassistisch und oft auch rassistisch.

        Wir benutzen Sprache, die dafür sorgt, dass alle Menschen einen Zugang zu uns haben können. Fremdwörter sind oft wichtig, um Probleme und Lösungen präzise zu benennen und Diskriminierung zu bekämpfen, aber Begriffe müssen erklärt werden und unnötige Benutzung von Fremdwörtern vermieden werden.

        Unsere Sprache muss inklusiv und diskriminierungsfrei sein, damit unser Verband inklusiv und diskriminierungsfrei wird.

        O1 Awareness-Konzept

        6.09.2021

        1. Einleitung

        Lange galt das Mantra „Politik“ und vor allem Partei-Politik ist eben „hart“ und man(n) müsse das eben aushalten können. Man könne für Politik nicht zu sensibel und emotional sein. Diese Einstellung verkennt, ob bewusst oder unbewusst, dass Kultur des Politikmachens vor allem für privilegierte Weiße cis Männer funktioniert, die nur einen Teil unseres Verbands ausmachen. Denn „es“ aushalten müssen, betrifft meist diskriminierte Gruppen. Es wird verkannt, dass Menschen mit unterschiedlichen Ressourcen und Mitteln sich in diesen Räumen bewegen. Eine politische Kultur, die dominantes, aggressives Verhalten privilegierter Gruppen toleriert, führt zu einem Raum, in dem sexuelle und emotionale Gewalt begünstigt wird.

        Aufgrund unserer besonderen Strukturen als Teil einer Partei in Deutschland, muss uns bewusst sein, dass wir anders agieren müssen als andere Vereine oder Verbände. Das Awareness-Konzept hat somit nicht nur das Ziel, konkrete Fälle zu klären, sondern auch einen Prozess in Gang zu setzen, der das Bewusstsein für diskriminierende Strukturen erhöht, dass wir diese verändern und dass alle Herrschaftsverhältnisse kritisch in den Blick nehmen. Unser Ziel ist es, dass die Ansprechpersonen nicht mehr tätig werden müssen. Das geht nur, wenn wir eine Verbandskultur etablieren, die von allen gelebt wird und Diskriminierungen dadurch Einhalt gebietet. Wir alle müssen einen Blick dafür entwickeln, ob eine Person sich unwohl fühlt, ob man sich selbst gerade diskriminierend verhält und alle müssen wissen, wie man sich verhalten sollte, wenn man Diskriminierung mitbekommt. Unsere Sensibilität soll sich dabei nicht nur auf Veranstaltungen beziehen, sondern auch sensibel dafür sein, was außerhalb von unseren offiziellen Veranstaltungen passiert. Nur, wenn wir alle diese Kultur des safer spaces leben, können wir unsere Strukturen nachhaltig verändern und einen Raum schaffen, in dem alle gerne Politik machen und nicht abgeschreckt werden, weil sie sich durch Verhalten von anderen nicht bei uns nicht wohlfühlen.

        Dabei beziehen wir uns nicht nur auf physische Gewalt und übergriffiges Verhalten. Vor allem marginalisierte Gruppen erleben auch immer wieder emotionale Gewalt und begegnen unangemessenem Verhalten: Ismen wie Rassismus, Sexismus, Trans- und Homofeindlichkeit oder Ableismus werden reproduziert. Auch sexuelle Gewalt ist für uns nicht nur physisch möglich. Emotionale Gewalt ist für die Betroffenen retraumatisierend. Wir wollen deutlich machen, dass wir jegliche Form von Diskriminierung ablehnen und es bei Awareness nicht nur um sexuelle Gewalt gegen Frauen geht. Insbesondere homosexuelle Männer und BPoC müssen das Gefühl vermittelt bekommen, dass ihre Sorgen, Ängste und Probleme genauso berücksichtigt werden.

        Unserem Awareness-Konzept sind dabei Grenzen gesetzt. Es kann keine strafrechtliche Verfolgung aufgenommen werden oder Menschen einfach aus der Partei ausgeschlossen werden. Das Parteiengesetz beschneidet uns dort als Verband nochmal in besonderer Weise. Zentral ist deswegen, Betroffene so zu begleiten, in welcher Form es gewünscht ist und ansprechbar zu sein.

        2. Ansprechpersonen und Zusammensetzung

        Die Vergangenheit hat gezeigt, dass es Verantwortliche für die Awarenessarbeit braucht, die klar nach außen kommuniziert werden und für alle im Verband eindeutig sind. Damit wollen wir deutlich machen, dass wir das Thema Awareness, Anti-Diskriminierung und Anti-Rassismus ernst nehmen und Verhalten, das dem zuwider ist, bei uns im Verband keineswegs tolerieren. Unsere artikulierten Standpunkte sollen sich auch in unserem Verbandsleben widerspiegeln. Daher braucht es einen sensiblen Umgang mit solchen Fällen der übergriffigen Handlungen. Daher sind klare Verantwortliche, die geschult sind und Erfahrungen haben, von großer Bedeutung.

        Als ein politischer Verband stehen wir vor einer besonderen Herausforderung. Bei uns gibt es klare Hierarchien und Machtverhältnisse, die bei der Benennung von Verantwortlichen berücksichtigt werden müssen. Daher wollen wir sowohl zwei Verantwortliche innerhalb des Vorstands benennen als auch eine Person, die nicht Teil des Landesvorstandes ist, nominieren lassen.  Alle drei Personen werden auf der Wahl-Landeskonferenz, nachdem sich der Landesvorstand konstituiert hat, für zwei Jahre nominiert. Benannt wird die Awarenesskommission formell vom Landesvorstand, wobei die Nominierungen dafür als Grundlage dienen. Bei der Notwendigkeit durch einen Rücktritt kann ein*e neue*r Beauftragte*r auch von einem Landesausschuss neu nominiert werden. Diese drei Personen bilden die Awareness-Kommission.

        Dabei sollten folgende Faktoren berücksichtigt werden. Zum einen sollten es sich bei  der Person außerhalb des Vorstands der Awareness-Kommission, um jemanden handeln, die*der möglichst wenig in andere Hierarchien eingebunden ist. Landesvorstandsmitglieder als auch Vorsitzende von Unterbezirken, Kreisverbänden oder Regionen halten sollten nicht diese Funktion übernehmen. Diese Abwesenheit aus formalen Hierarchien soll garantieren, dass Betroffene keine Sorge vor Konsequenzen oder Loyalitäten haben müssen, wenn sie sich mit ihrem Problem an die Person wenden.

        Dennoch sehen wir, dass Awarenessarbeit mit viel Sensibilität behandelt werden muss, da sowohl die Informationen sensibel sind, als auch die Maßnahmen Konsequenzen für einzelne Mitglieder haben können und daher eine Kommission mit einer besonderen und machtvollen Stellung sind. Daher sollen weiterhin zwei Landesvorstandsmitglieder Teil der Kommission sein.

        Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass es sich um ein diverses Team handeln soll. Dabei müssen die Aspekte von Diskriminierung gegen Frauen als auch gegen Männer beachtet werden. Daher sind zwei FINT-Personen sowie ein Mann als Verantwortliche zu benennen. Außerdem sollte auch eine Person Rassismuserfahrungen teilen. Dies muss vor allem der Vorstand bei der Benennung der Verantwortlichen aus den eigenen Reihen berücksichtigen. Im Falle einer nicht zu verhindernden Abweichung der Diversität, wird der Landesvorstand eine Erklärung festhalten.

        Weiterhin ist es verpflichtend, dass alle drei Verantwortlichen an einer Schulung teilzunehmen. Dafür eignen sich Schulungen beispielsweise vom Weißen Ring. In dieser Schulung sollten folgende Aspekte inbegriffen sein: der sensible Umgang mit Betroffenen, rechtliche Konsequenzen, Konfliktmanagement und Gesprächsführung. Die Kosten der Schulung übernimmt der Landesverband. Außerdem soll auch klar sein, welche Verfahren innerhalb der Partei möglich sind und für welche Fälle bspw. die Schiedskommission herangezogen werden kann.

        Allerdings soll deutlich gemacht werden, dass Betroffene sich weiterhin an jede Person aus dem Verband und darüber hinaus wenden können, der sie vertrauen. Das Team aus Verantwortlichen stellt ein Angebot dar, keine Pflicht sich nur an diese wenden zu können.

        Die Awareness-Kommission bildet dabei eine erste Anlaufstelle. Die Awareness-Kommission soll dann eigenständig entscheiden, ob ein Vorfall in ihre Zuständigkeit fällt. Sollte ein Fall vorliegen, der dem Sinn und Zweck dieses Awarenesskonzepts nicht folgt und die Kommission taktisch genutzt werden sollte, kann die Kommission einer weiteren Bearbeitung widersprechen.

        3. Umgang mit Betroffenen

        Für uns ist der Umgang mit der betroffenen Person einer der relevantesten Aspekte. Dabei respektieren wir die Definitionsmacht der betroffenen Person. Das bedeutet ganz konkret, dass wir nicht in Frage stellen, ob die Wahrnehmung einer erlebten Situation die eigene Grenze überschritten hat. Gleichzeitig ist für uns aber auch klar, dass die Wahrnehmung über das Erleben der betroffenen Personen nicht von allen geteilt werden muss. Es gibt nicht immer ein*e Täter*in, aber immer eine betroffene Person. Unterm Strich sind diese Fälle immer noch ernstzunehmende Übergriffe, die dafür sorgen können, dass man sich in bestimmten Räumen nicht mehr aufhalten oder engagieren will. 

        Aus dem Grund ist für uns von großer Bedeutung, dass die Benennung einer grenzüberschreitenden Handlung an höchster Stelle ist. Daraus resultiert, dass wir prinzipiell auf der Seite der betroffenen Person stehen und in ihrem Interesse handeln. Wir glauben fest daran, dass eine betroffene Person am besten weiß, was sie braucht oder will und welche Unterstützung sie in Anspruch nehmen will. Wir wollen sie dabei unterstützen Hilfsangebote wahrzunehmen oder innerverbandlich bei den NRW Jusos ein Verfahren einzuleiten. Dazu kann gehören, die Schiedskommission der SPD heranzuziehen. Grundsätzlich wollen wir aber nichts machen, ohne es mit der betroffenen Person abzuklären. Gleichzeitig wollen wir der beschuldigten Person die Möglichkeit überlassen, eine Stellungnahme abzugeben, damit die eigenen Rechte ausgeübt werden können und beiden Parteien die Möglichkeit gegeben ist, den Vorfall aus der eigenen Perspektive zu schildern.

        Zuletzt muss auch bedacht werden, dass es betroffene Personen geben kann, aber nicht immer auch ein*e Täter*in, da eine betroffene Person auch durch Musik, sensible Themen oder Lieder an schlechte Erfahrungen erinnert werden kann. Daher definieren wir für uns Awarenessarbeit als eine Arbeit, die der betroffenen Person mit einer Hilfestellung durch das Einrichten einer ansprechbaren Stelle eine Möglichkeit der Verarbeitung der erlebten Situation bietet und mit Sensibilität den Bedürfnissen und den Perspektiven der betroffenen Person entgegnet und diese Gefühle auch ernst nimmt.

        4. Genereller Ablauf des Umgangs eines Awarenessfalls

        Für den Fall, dass die betroffene Person eine Klärung der Situation anstrebt, möchten wir als Institution ein vertrauliches Verfahren etablieren und verpflichten uns dem nachzugehen. Durch ein solches institutionalisiertes Verfahren, wollen wir nicht nur eine Möglichkeit der Verarbeitung bieten, sondern schon allein durch das Bestehen eines Awareness-Teams unsere Verbandskultur aktiv verändern. Das bedeutet für uns, dass wir es innerverbandlich ermöglichen wollen eine verhältnismäßige Konsequenz zu ziehen.

        Das vereinbarte Verfahren soll bei Fällen übergriffiger Handlungen oder unangemessenem Verhalten folgendermaßen ablaufen: Wenn sich die betroffene Person an eine vermittelnde Person wendet und den Wunsch ausspricht, dass dieser Fall behandelt werden soll, so wird der Fall entweder durch die betroffene Person selbst oder durch eine vermittelnde Person an die Awareness-Kommission herangetragen. Die Awareness-Kommission allein wird über konkrete Details informiert, soweit die betroffene Person das will. Hierbei ist dringend der Umstand der Retraumatisierung durch ein erneutes Erzählen zu beachten und dem ist vehement entgegenzuwirken. Im Rahmen des Schutzes aller Parteien wird der Landesvorsitz über den Stand des Verfahrens unterrichtet.

        Wenn der erste Kontakt stattgefunden hat und über den Vorfall berichtet wurde, soll der betroffenen Person sowohl innerverbandliche Möglichkeiten der Klärung als auch außerverbandliche Möglichkeiten, wie Beratungsstellen, an die Hand gegeben werden. Wenn die betroffene Person den Wunsch ausspricht ein innerverbandliches Verfahren einzuleiten, dann wird das hier beschriebene transparente Verfahren eingeleitet. Dieses transparente Verfahren ist nötig, um die Rechte der Parteien zu wahren und gleichzeitig durch die vorangegangene verbandsweite Vereinbarung über die Geltung des Verfahrens für eine effektive Handhabe bei übergriffigen Handlungen zu sorgen.

        Das Verfahren beginnt mit der formellen Bekanntgabe gegenüber der beschuldigten Person über die Einleitung des Verfahrens. Im Anschluss wird die beschuldigte Person dazu aufgefordert eine Stellungnahme abzugeben. Wenn die betroffene Person zustimmt und der Vorfall es zulässt, ist der erste Schritt ein Mediationsverfahren einzuleiten, um den Vorfall zwischen den beiden Parteien beizulegen und aufzuarbeiten. Sollte ein Mediationsverfahren nicht möglich sein, sucht die Awareness-Kommission mit der beschuldigten Person das Gespräch, um den Vorfall, wenn möglich, aufzuarbeiten.

        Im Falle einer festgestellten Gewalt oder (wiederholten) unangemessenen Verhaltens, das weiterer Konsequenzen bedarf, wird im Anschluss darauf in Absprache mit der betroffenen Person, eine verhältnismäßige Konsequenz gezogen. Diese Konsequenz wird sich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit an den Wunsch der betroffenen Personen ausgerichtet, damit für diese Person eine möglichst unbeschwerte und geschützte Teilnahme an Juso-Veranstaltungen gesichert wird. Mögliche Konsequenzen werden von dem Fall abhängig gemacht und sind Alkoholverzicht, zu unterlassenende Kontaktaufnahmen und (vorübergehenden) Veranstaltungsverboten. Ziel ist es dabei, erst mal unterschiedliche Eskalationsstufen schrittweise zu gehen. Sollten sich andere Konsequenzen in einem spezifischen Vorfall ergeben, kann die die Awareness-Kommission diese ergreifen. Die Konsequenzen müssen in Absprache mit dem Landesbüro und dem Landesvorsitz gezogen werden. Sollte es sich um einen strafrechtlichen Vorfall handeln, wird die betroffene Person von der Awareness-Kommission darüber informiert, dass sie sich professionelle juristische Hilfe holen kann. Ist es letztendlich zu einer Verurteilung der beschuldigten Person gekommen, kann die Awareness-Kommission die betroffene Person darüber unterrichten, dass diese auch innerparteiliche Schritte einleiten kann und es werden die relevanten Informationen über die Schiedskommission mitgegeben.

        Je nach Ausmaß der Situation muss bei der Ziehung der Konsequenz jedoch auch beachtet werden, wie ein Raum geschaffen wird, wo übergriffige Menschen trotz ihrer zu verurteilenden Handlung die Möglichkeit haben, durch einen Reflektionsprozess keinen sozialen Ausschluss zu unterliegen. Es ist aber klar, dass dieser Aspekt nur in den Fällen greift, wo die Härte des Falls nicht dagegenspricht. Besonders strafrechtlich relevante Tatsachen sprechen für uns schon per se gegen diese Möglichkeit aber auch schwerwiegende Umstände, die nicht von rechtlicher Relevanz sind, aber gegen unsere Grundverständnis verstoßen.

        5. Awareness auf Veranstaltungen

        Gerade auf Veranstaltungen bedarf es einer besonderen Awareness. Wir wollen bei unserer Sensibilität für dieses Thema, nicht vernachlässigen, dass wir ein Jugendverband sind, der zusammen feiert und auch enge Freundschaften, körperliche Nähe und partnerschaftliche Beziehungen bei uns Normalität sind. Wir wollen, dass Awareness und zwischenmenschliche Beziehungen jeglicher Art für uns Hand in Hand gehen und sich nicht ausschließen.

        Damit dies möglich ist, wollen wir gerade bei Veranstaltungen einen Raum schaffen, der für alle einen Wohlfühlraum bedeutet. Dies beinhaltet für uns, dass bei jeder Veranstaltung auf unsere Verbandskultur sowie auf Sensibilität für Diskriminierung aufmerksam gemacht wird, sowohl mündlich als auch schriftlich durch Aushänge. Außerdem sollen bei jeder Veranstaltung ein Awareness-Team benannt werden, welche in Vorbereitung einer Veranstaltung vom Landesvorstand kontaktiert werden. Die Verantwortlichen werden am Anfang jeder Veranstaltung sichtbar für alle vorgestellt werden. Außerdem wird eine Telefonnummer bereitgestellt, die einen direkten Kontakt zum Awareness-Team ermöglicht. Das Team umfasst vier Personen, wovon mindestens zwei nicht im Landesvorstand sind und mindestens zwei FINT-Personen, ebenfalls sollte eine diverse Aufstellung angestrebt werden. Die Personen sind von den Kosten für die Veranstaltung befreit. Die Verantwortlichen erhalten vorher einen Leitfaden, der erläutert, wie in konkreten Situationen reagiert und wie mit Betroffenen umgangen werden sollte. Dieser Leitfaden wird von der Awareness-Kommission erstellt. Ebenfalls soll dafür sensibilisiert werden, ab welchen Punkt Personen von Veranstaltungen ausgeschlossen werden und ab wann Grenzen derartig überschritten sind, dass die Polizei einbezogen werden muss. Dies muss stets in Rücksprache mit dem Landesbüro und dem Landesvorsitz geschehen. Die endgültige Entscheidung eines Ausschlusses von einer Veranstaltung liegt dabei beim Landesbüro, welcher bereits jetzt durch unsere AGBs möglich ist. Das Awareness-Team ist nur für Veranstaltungen zuständig, sollte eine weitere Betreuung einer Person beziehungsweise eines Falls notwendig und gewünscht sein, übernimmt dies die Awareness-Kommission nachgelagert.

        M1 Photovoltaik-Pflicht bei privaten Neubauten und kommunalen Gebäuden

        2.09.2021

        Angesichts der Klimakrise setzen wir uns für einen massiven Ausbau von erneuerbaren Energien ein. Dabei gibt es vor allem bei der Nutzung von Solarenergie noch viel ungenutztes Potenzial, denn mit den Hausdächern und -wänden unserer Städte und Gemeinden stehen genügend Freiflächen zur Verfügung. Wir fordern daher:

        • Gebäude der öffentlichen Hand sollen flächendeckend mit Photovoltaikanlagen ausgestattet werden. Wir Jusos suchen den Kontakt zu den SPD-Ratsfraktionen und den kommunalen Verwaltungen, um diese Position überall in Ostwestfalen-Lippe durchzusetzen.
        • Bei der Planung von Neubaugebieten soll die Ausstattung mit Photovoltaik verpflichtend berücksichtigt werden. Dazu gehört auch, die Ausrichtung der Gebäude sowie die Neigung der Dächer dazu passend zu gestalten.
        • Für bestehende Gebäude in Privatbesitz sollen möglichst weitreichende, finanzielle Förderungen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene zur Installation und Nutzung von Photovoltaik ins Leben gerufen oder – sofern bereits existent – ausgebaut werden.

        Deutschland wird 2022 aus der Kernenergie aussteigen. Die anderen Energiequellen, insbesondere die Erneuerbaren Energien, werden voraussichtlich die Kernenergie kompensieren können[1]. Nie war es essentieller, den Anteil der Erneuerbaren Energien drastisch zu erhöhen, um schneller als 2038 aus der Kohleenergie aussteigen zu können. Die Kommunen müssen als Vorbild vorangehen und alle geeigneten kommunalen Gebäude ausrüsten. Dabei müssen Neubauten in der Zukunft verpflichtend mit Photovoltaikanlagen gebaut werden. Mit einem Kohleausstieg im Jahr 2038 wird Deutschland sein CO2-Budget zum Erreichen des 1,5-Grads nicht gewährleisten können[2]. Daher ist es zwingend notwendig, schneller eine Energieversorgung ohne Kohlestrom zu schaffen.

        Das Gutachten „Photovoltaik-Pflicht mit Verpachtungskataster: Optionen zur Gestaltung einer bundesweiten Pflicht zur Installation und zum Betrieb neuer Photovoltaikanlagen“ von Oktober 2020 vom Umweltbundesamt kommt zu dem Ergebnis:

        „Eine PV-Pflicht für Gebäudeeigentümer und -eigentümerinnen kann unter Beachtung der dargestellten verfassungsrechtlichen Maßstäbe als vereinbar mit der Eigentumsgarantie und der Berufsfreiheit ausgestaltet werden.“ [3]

        [1] https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/energiewende/fragen-und-antworten/kernkraft#:~:text=Deutschland%20hat%202011%20den%20schrittweisen,dass%20es%20unabsehbare%20Restrisiken%20gibt.

        [2] https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.725608.de/diwkompakt_2020-148.pdf

        [3] https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/photovoltaik-pflicht-verpachtungskataster-optionen

        https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/5750/publikationen/2020_10_26_climate_change_34_2020_pv-pflicht_mit_verpachtungskataster.pdf S. 55

        I3 Wider der Fortsetzung politischer Rhetorik – Für eine wissenschaftsbasierte Kriminalpolitik!

        2.09.2021

        Die Regionalkonferenz möge beschließen:

        Seit 1949 gab es lediglich eine Legislaturperiode, in der das Bundesministerium des Innern von Sozialdemokrat*innen geführt wurde. Innenpolitik ist seit jeher ein Politikfeld, welches von der CDU/CSU kontrolliert wird, es ist an der Zeit dies zu ändern!

        Insbesondere die Kriminalpolitik hat in den letzten Jahrzehnten unter der Dominanz konservativer Blickwinkel gelitten. In den 1960er und 1970er Jahren sprachen konservative Politiker von einer „Drogenepidemie“, der man den „Kampf“ ansagen müsse und in den 1980er bzw. 1990er Jahren von steigender Jugendkriminalität der man mit „entschiedener Härte“ entgegentreten müsse. In den 2000er Jahren wurden Gesetzesverschärfungen und -ausweitungen, sowie die Herabsetzung der Strafbarkeitsgrenze gefordert. Auch wurde die Vorverlagerung der Strafbarkeit forciert und die Terrorismusbekämpfung verschärft. Seit den 2010er Jahren und bis heute fordern Konservative die Ausweitung der Anwendung von Staatstrojanern, mehr Videoüberwachung und immer weiter ausufernde Kompetenzen für die Polizei. Nicht zuletzt ist hier der neu geschaffene §114 StGB zu erwähnen, der Polizist*innen im Dienst vor tätlichen Angriffen schützen soll, aber offensichtlich Täter und Opferrolle in sein Gegenteil verkehrt. Und auch jetzt verstecken sich CDU und CSU vor den drängenden kriminalpolitischen Problemen unserer Zeit und blockieren jede Debatte: Sie dementieren grundsätzlich die zunehmende, rechtswidrige Polizeigewalt, sowie den Rechtsextremismus in der Polizei. Sie geben sich der Lächerlichkeit Preis, indem wissenschaftliche Untersuchung zu „racial profiling“ mit dem Argument abgelehnt werden, diese „seien gesetzlich verboten“. Damit führen CDU und CSU den sicherheitspolitischen Diskurse ad absurdum. Dabei ist die von konservativ geführte Innenpolitik von Ideenlosigkeit geprägt. Dies wird nicht zuletzt durch den seit Jahrzehnten aus konservativen Kreisen, in ermüdender Regelmäßigkeit paraphrasierten sinnbefreiten Slogan „Null-Toleranz“ deutlich.

        Konservative Innenpolitik ist die Summe kriminalpolitischer Fehlentwicklungen, die dringend eines sozialdemokratischen Korrektivs bedarf.

        Daher fordern wir:

        Eine sachliche und evidenzbasierte Kriminalpolitik

        In der Kriminalpolitik ist evidenzbasiertes Handeln besonders wichtig. Staatliche Reaktionen können tiefgreifende Grundrechtsverletzungen darstellen und bedürfen daher guter Begründung. Dabei muss der Staat gewonnene, wissenschaftliche Erkenntnisse beachten und sich nicht von episodenhaften, medial aufgeheizten Stimmungsbildern leiten lassen.

        Auch müssen relevante Kriminalitätsbereiche stetig erforscht werden. Zum einen muss die Kriminalwissenschaft daher mit ausreichend Ressourcen ausgestattet werden, zum anderen darf es keine Bereiche geben, die der Wissenschaft aus fragwürdigen Gründen verschlossen bleiben. Wir begrüßen daher, dass die TU-Berlin mit einer Studie zum strukturellen Rassismus innerhalb der Berliner Polizei beauftragt wurde und fordern weitere Studien zu Rassismus und Diskriminierungsmechanismen innerhalb der Polizei.

        Zentral ist, dass sich die Ausrichtung sicherheitspolitischer Entscheidungen stets an der objektiven Sicherheitslage und aktuellen wissenschaftlichen Befunden orientiert.

        Prävention und Repression

        Die beste Kriminalpolitik ist eine gute Sozialpolitik. Daher gilt es gerade auch die Ursachen und nicht nur die Symptome von Kriminalität anzugehen. Für die Jugendkriminalität bedeutet dies anzuerkennen, dass Jugenddelinquenz kein Indiz für ein erzieherisches Defizit sein muss, sondern eine entwicklungsbedingte Auffälligkeit sein kann, die mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter abklingt. Nicht selten ist sie auch Resultat von Stigmatisierung und Etikettierung, beispielsweise durch Institutionen und Autoritäten, mit der Jugendliche aus bestimmten sozialen Milieus oder migrantischer Wurzeln aufwachsen. Im Hinblick auf polizeiliche Repressionen ist hier überwiegend „nichts tun, besser als etwas tun“. Ein Zusammentreffen der Jugendlichen mit Polizei oder Justiz erhöht eher noch das Risiko, dass die Bindung an einen delinquenten Freundeskreis verstärkt wird. Auch sogenannte jugendliche Intensivtäter benötigen alles andere als die „volle Härte des Gesetzes“. Eine vermehrte Anzahl von Straftaten im jugendlichen Alter ist Ausdruck erheblicher Entwicklungsprobleme, die häufig im Zusammenhang mit dem schwierigen sozialen Umfeld des jungen Menschen stehen. Hier spielt unter anderem die Jugendhilfe eine zentrale Rolle. Wichtig ist ihre Eigenständigkeit und Leistungsfähigkeit zu erhalten und auszubauen. Auch in anderen Bereichen ist es von besonderer Bedeutung, soziale Hilfen und Präventionsprogramme zu fördern: Menschen mit multiplen Suchtproblematiken, die in vermeintlicher Ausweglosigkeit Straftaten begehen, benötigen Hilfe, keine Repression (Dabei ist natürlich die Schwere der Straftat miteinzubeziehen). Hier muss die Suchtberatung gestärkt und frühzeitige Hilfen flächendeckend ermöglicht werden. Ebenso gilt dies für Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen, die für sich und für die Menschen in ihrer Umgebung eine Gefahr darstellen. Der Bedarf an ambulanten und stationären psychologischen Therapieplätzen ist groß, daher muss das Angebot hier deutlich ausgebaut werden.

        Nur auf Gesetzesverschärfungen und auf eine „Null-Toleranz-Linie“ zu setzen, ist dagegen ein Zeichen von Ignoranz und Desinteresse gegenüber den Menschen mit multikomplexen, kriminogenen Problemen.

        Je stärker die sozialen Einrichtungen in allen Bereichen gefördert werden, desto spürbarer wird eine Entlastung der Polizeikräfte eintreten. Dementsprechend müssen die präventive Infrastruktur, sowie die betroffenen Berufsgruppen dahingehend gestärkt und unterstützt werden, dass elementaren und strukturellen Anliegen wie Personaldeckung, guter Bezahlung sowie der bedarfsorientierten Ausstattung, Rechnung getragen wird.

        Polizeiausbildung strukturell verändern

        Polizeieinsätze sind in den letzten Jahren immer wieder Gegenstand öffentlicher Diskussionen geworden: Rechtswidrige Polizeigewalt bei Einsätzen, sowie gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit innerhalb der Polizei wurde in den letzten Jahren vermehrt beobachtet. Deshalb ist es unausweichlich, die Polizeiausbildung in Deutschland strukturell zu verändern.

        Die Studienlage zeigt, dass junge Menschen, die zur Polizei gehen, überwiegend keine menschenfeindlichen, rassistischen oder andere nicht mit dem Grundgesetz vereinbaren Einstellungen teilen,, jedoch nach dem ersten Praxissemester einen sogenannten „Praxisschock“ erleben woraufhin sich im Anschluss persönliche, politische Einstellungen radikal ändern. Hier werden Praxiserfahrungen von Ausbildern, die teils Jahrzehnte im Dienst sind, weitergegeben. Um dem entgegenzuwirken, sollen zum einen die Ausbilder*innen nur für einen befristeten Zeitraum Polizeianwärter*innen anlernen. Außerdem müssen diese im Rahmen eines Rotationsprinzips in regelmäßigen Abständen Kontakt zu wechselnden Ausbilder*innen haben. Daneben sollte versucht werden, den theoretischen Teil der Ausbildung an regulären Universitäten durchzuführen. So können Polizeianwärter*innen während ihrer Ausbildung auch in Kontakt mit Studierenden anderer Fachrichtungen kommen und der Abschottung durch externe Polizeikasernen kann entgegengewirkt werden.

        Des Weiteren bedarf es einer intensiven wissenschaftlichen Prüfung, wie dem Phänomen des Praxisschocks in der praktischen Polizeiausbildung am besten begegnet werden kann. Fest steht nur, dass die theoretische Ausbildung im Polizeistudium (Vorlesungen in der Kriminologie etc.) allein, keinen nennenswerten Einfluss auf die Einstellungen ausüben kann. Hilfreich können jedoch mehrjährige, interkulturelle Kompetenz- und Kommunikationstrainings sein, um angehende Polizist*innen im Hinblick auf das Wissen um die Zusammenhänge von dienstlichen Begegnungen und der Entstehung von Vorurteilen zu schulen. Eine Studie an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in NRW konnte für diese Art des Trainings einen signifikanten Rückgang von gruppenbezogenen, menschenfeindlichen Einstellungen bei den Kommissaranwärter*innen während des Kurses zeigen.

        Ein weiterer zentraler Punkt sind befristete Verwendungszeiten an Dienststellen in Kontexten, in denen mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit negativer Kontakterfahrungen mit ethnischen Minderheiten zu rechnen ist. Hier muss auf eine zeitlich begrenzte Platzierung an den betroffenen Dienststellen geachtet werden.

        Bessere Kontrolle der Spezialeinheiten

        Spezialeinheiten müssen kontrolliert und in ihrem Handeln und ihrer Struktur im Hinblick auf ihre Verfassungskonformität besser überwacht werden. Bei der Manifestierung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Corps gilt es, konsequent zu handeln und die betroffenen Beamt*innen aus dem Beamt*innenverhältnis zu entlassen. Auch hier ist ein Rotationsprinzip sinnvoll. Insbesondere Einheiten wie SEK oder MEK sollten spätestens nach fünf Jahren personell neu strukturiert werden.

        Militarisierung der Polizei stoppen

        Es darf keine weitere Militarisierung der Polizei geben. Barett und Panzerfahrzeuge erfüllen weder einen inhaltlichen Zweck, noch haben sie eine sinnvolle und notwendige Funktion. Stattdessen dienen sie lediglich der martialischen Abschreckung, das ist unpassend und unangemessen. Für die von der DPolG häufig angeführten Argumente, dieses Vorgehen ziehe Abschreckungseffekte nach sich und stärke das subjektive Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung gibt es keinerlei wissenschaftliche Befunde.

        Testweise Einführung eines Ticket-Systems

        Wir wollen untersuchen und prüfen, inwieweit ein Ticket-System, Probleme wie „Racial Profiling“ und die vorurteilsbehaftete, erneute Kontrolle von Menschen aus marginalisierten Personengruppen verhindern kann. Dazu möchten wir das Ticket-System testweise in NRW einführen und die Effektivität der Maßnahme im Anschluss evaluieren.

        Bei diesem System bekommt jede Person, nachdem sie von der Polizei kontrolliert wurde ein Ticket. Dieses enthält Angaben zu Ort, Zeit, Datum, Grund und Umfang der Kontrolle.

        Keine Einführung von Tasern

        Ausdrücklich lehnen wir die Einführung und die Nutzung von Tasern im alltäglichen Polizeidienst ab. Diese werden häufig als ungefährliche Alternative zum Pistoleneinsatz beworben, tatsächlich stellen aber auch diese ein nicht unerhebliches Gesundheitsrisiko dar. Außerdem verleitet dieses Zwangsinstrument aufgrund der niedrigeren Hemmschwelle zu häufigerem und unverhältnismäßigem Gebrauch.

        Abschaffung des sogenannten Vermummungsverbots

        Das Vermummungsverbot dient häufig als polizeitaktisches Argument für die Auflösung von friedlichen Versammlungen. Dies führt häufig zu einer unnötigen Eskalation friedlicher Proteste. Angesichts dessen fordern wir die Aufhebung der Strafbarkeit des „Vermummens“. Stattdessen ist es als Ordnungswidrigkeit einzustufen. An die Verhältnismäßigkeit polizeilicher Maßnahmen werden damit höhere Anforderungen gestellt und ein Verwarngeld entspricht dem Vergehen als Bestrafung auch unabhängig davon eher als eine Verurteilung.

        Wiedereinführung der Kennzeichnungspflicht für Polizist*innen

        Um rechtswidrige Gewaltanwendungen durch Polizeibeamt*innen besser verfolgen zu können, bedarf es der Wiedereinführung einer im Dienst jederzeit verpflichtend zu tragenden Kennzeichnung für alle Polizeibeamt*innen, eingeschlossen derer, die im Rahmen der Amtshilfe eingesetzt werden. Diese Kennzeichnung muss einerseits zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Polizeibeamt*innen und andererseits zur besseren Verfolgbarkeit durch eine einfach zu merkende Zahlen- bzw. Buchstabenkombination erfolgen.

        Einführung unabhängiger Kontrollinstanzen

        Es gehört zu den Aufgaben der Polizei bei gewissen Dienstausübungen unmittelbaren Zwang anzuwenden. Dabei wird die Grenze zwischen rechtmäßigem polizeilichem Handeln und unverhältnismäßigen Gewalteinsatz teilweise überschritten. Insbesondere in den letzten Jahren ist der ernstzunehmende Eindruck in der Gesellschaft entstanden, dass die Anzahl rechtswidriger Gewaltanwendung durch die Polizei zugenommen hat. Es ist dringend erforderlich dies weiter durch die Kriminalwissenschaft untersuchen zu lassen.

        Gleichzeitig müssen die rechtlichen Möglichkeiten der Bürger*innen sich gegen rechtswidrige polizeiliche Maßnahmen zur Wehr zu setzen unbedingt gestärkt werden, denn die Fälle der Körperverletzung im Amt weisen eine besorgniserregende justizielle Erledigungsstruktur auf. In über 90% der Fälle wird das Verfahren eingestellt. Weniger als 2% der eingeleiteten Verfahren enden mit einem Strafbefehlsantrag oder einer Anklage. Demgegenüber liegt die bundesweite Anklagequote für Körperverletzung um das zehnfache höher. Namenhafte Kriminologen sprechen hier sogar von einem „Graubereich“ der justiziellen Strafverfolgung.

        Zentraler Aspekt ist hier die schnelle Einführung landesweiter Polizeibeauftragten, vergleichbar mit dem Vorbild des Wehrbeauftragten. Diese sollen nicht, wie in NRW beim Innenministerium angesiedelt, sondern allein dem Parlament gegenüber verpflichtet und damit unabhängig sein. Zudem ist es von essenzieller Bedeutung, diese Stellen mit genügen Personal und Ressourcen auszustatten.

        Hier können alle Bürger*innen, die Opfer von rechtswidriger Gewalt geworden sind, aber auch Polizist*innen selbst anonym, Beschwerde einreichen.

        Dies allein reicht jedoch nicht aus. In Deutschland führt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungsverfahren gegen potenzielle Straftäter*innen innerhalb der Polizei. Zur Ermittlung des Sachverhalts muss sie sich der Polizeibeamt*innen selbst als Ermittlungspersonen bedienen. Dies führt zum einen dazu, dass Polizist*innen gegen ihre eigenen Kolleg*innen ermitteln müssen und zum anderen zeichnet sich dadurch eine mögliche Konfliktquelle zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei ab, da die Staatsanwaltschaft auf ihre Ermittlungsbeamt*innen auch in allen anderen Fällen angewiesen ist. Ermittlungsverfahren gegen ihre eigenen Ermittlungspersonen können das Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei beschädigt, was eine effektiven Strafverfolgung zusätzlich erschwert. Außerdem könnte die Staatsanwaltschaft dadurch geneigt sein, Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamt*innen eher einzustellen, um eine intakte Kooperation nicht zu beeinträchtigen. Um diese „Zwitter“-Stellung aufzulösen, bedarf es einer unabhängigen Kontrollinstanz, die ihre eigenen Ermittlungsbeamt*innen hat. Dänemark geht seit 2012 mit gutem Beispiel voran: Die Polizeibeschwerdebehörde in Aarhus hat 34 Ermittler*innen, mit einem Jahresbudget von 2,8 Mio. Euro, für gerade einmal 11.000 Polizist*innen. Zum Vergleich: In NRW hat der Landespolizeibeauftrage gerade einmal zwei Mitarbeitende und ein Jahresbudget von 150.000 Euro für rund 54.000 Polizeibeschäftigte.

        Mit ihren weitreichenden Kompetenzen ist die dänische Polizeibeschwerdestelle vollständig unabhängig und stärkt so das Vertrauen der Gesellschaft in polizeiliche Arbeit. Und entgegen populistischen Argumente aus den Kreisen mancher Polizeigewerkschaften, solche Institutionen seien reine „Misstrauensorganisationen“, genießt die dänische Behörde auch in den Reihen der eigenen Polizei Ansehen. In Fällen polizeilichen Fehlverhaltens müssen Polizeibehörden in Dänemark nun keine eigenen Beamt*innen mehr zur Ermittlung interner Angelegenheiten abstellen, was einerseits das Arbeitsklima in der Behörde stärkt und andererseits benötigtes Personal nicht länger bindet.

        Zusammenfassend fordern wir:

        • Eine sachliche und evidenzbasierte Kriminalpolitik
        • Förderung kriminalwissenschaftlicher Untersuchungen
        • Förderung von Präventionsprogrammen und Ausbau ambulanter Hilfemaßnahmen
        • Ein Ende ewiger „Null-Toleranz“-Rhetorik und ein kollektives Bewusstsein in der Innenpolitik für die Ursachen kriminogener Phänomene.
        • Eine Umstrukturierung der Polizeiausbildung
        • Stärkere Kontrolle der polizeilichen Spezialeinheiten
        • Keine Militarisierung der Polizei!
        • Eine testweise Einführung eines sogenannten Ticket-Systems
        • Keine Einführung von Tasern
        • Die Abschaffung des sogenannten Vermummungsverbots
        • Die Wiedereinführung der Kennzeichnungspflicht
        • Die Einführung landesweiter nur dem Parlament verpflichteten Polizeibeauftragten
        • Eine vollständig unabhängige Polizeibeschwerdebehörde nach dänischem Vorbild

        I2 Links sein heißt kein Vaterland zu haben: Herkunft-DNA-Tests in der Strafverfolgung verbieten und als Dienstleistung regulieren

        2.09.2021

        DNA-Tests zur genetischen Erforschung der eigenen Herkunft erfreuen sich weltweit wachsender Beliebtheit. Doch das ist ein Problem. Denn wo Daten, zumal genetische, einmal erhoben, verarbeitet und auswertbar gemacht werden, da nutzt man sie auch. Zwar bleiben die Ergebnisse bislang in den Händen der Personen und Unternehmen, die sie erheben – doch auch Staaten beginnen zunehmend, die „biogeographische Herkunft“ von Personen zu ermitteln und, bislang ausschließlich, in der Strafverfolgung einzusetzen.

        Wissenschaftler*innen zweifeln an der Seriosität der genutzten Methoden zur Ermittlung der “biogeographischen Herkunft”: Unternehmen laden die genetischen Informationen in ihre (wachsenden) Datenbanken und prüfen sie auf Übereinstimmungen mit anderen DNA-Daten aus unterschiedlichen Regionen der Welt. Je nach Datenbank weichen das Ergebnis und die damit ermittelte „Herkunft“ also voneinander ab. Der Genetiker Mark Stoneking führt dazu aus: „Diese Daten sind nicht realistisch, sondern modellbasiert. […] Die Prozentangaben sind nur eine ungefähre Einschätzung und sollten nicht zu ernst genommen werden. […] Was man kann, ist großflächige geografische Räume festzulegen, aber so viel Prozent britisch, deutsch oder irisch, das sind Märchen. Das ist nicht korrekt.“(1) Zumal Menschen die Grenzen zwischen Staaten gezogen haben – mit der DNA hat das nichts zu tun.

        Für den Privatgebrauch sind DNA-Tests zur „Entdeckung“ der eigenen „Ahnengeschichte“ bereits seit längerem erhältlich. Dabei entstehen riesige DNA-Datenbanken, die Unternehmen neben den eigentlichen Ahn*innenforschungsanliegen der Käufer*innen unter anderem „für interne Geschäftszwecke, zur Verbesserung und Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen, [und] zur Durchführung interner Datenanalysen“ verwenden können (AGB MyHeritage; 08.02.2021). Das Verlangen danach, mehr über die eigene Herkunft zu erfahren, wird somit für kommerzielle Zwecke mit nicht absehbaren Konsequenzen genutzt – die Käufer*innen zahlen dafür nicht nur mit viel Geld, sondern auch mit ihrer DNA – und somit gleichzeitig auch mit der DNA ihrer Angehörigen, was deren Rechte verletzt und etwa Krankenkassen und ähnlichen Playern neue Möglichkeiten der „Risikoermittlung“ erschließt. Die Weitergabe von Daten an Versicherungen und weitere Institutionen ist den AGB mehrerer Anbieter*innen zufolge derzeit nur mit Zustimmung der Käufer*innen möglich, was jedoch nicht für die Ewigkeit festgeschrieben sein muss. Das Risiko einer (zwangsweisen) Anzapfung derartiger Datenquellen durch entsprechende staatliche Erlasse ist ebenso real wie die Bedrohung durch Hacker*innenangriffe.

        Im Kontext der Auswertung von DNA-Daten im Zuge strafprozessualer Ermittlungen ergeben sich zusätzliche Probleme: Erstens sind viele DNA-Spuren an Tatorten verunreinigt oder mit anderen DNA-Spuren vermischt und somit nicht eindeutig auswertbar. Zweitens sind die Proben geographisch nur so unspezifisch auswertbar, dass lediglich große Abweichungen in der DNA sauber identifiziert werden können. Somit sind nur Spuren, die zu Täter*innen mit von der Mehrheitsbevölkerung „abweichender“ DNA führen, in der polizeilichen Fahndung mit Mehrwert verwertbar. Aus diesem Grund ist auch die Nutzung genetischen Materials zur Fahndung nach Täter*innen anhand phänotypischer (also äußerlich erkennbarer) Merkmale wie Augen-, Haar- und Hautfarbe kritisch zu sehen, da sie Racial Profiling in ähnlicher Weise befeuert. Auch diese Merkmale sind bei der Fahndung nur hilfreich, wenn sie den Personenkreis, nach dem gefahndet wird, merklich einengt. Aufgrund des fehlenden Mehrwerts der Auswertung von DNA-Proben weißer Menschen zu Fahndungszwecken wird so in der Berichterstattung wie im Ermittlungsgeschehen selbst ein Fokus auf BIPoC gelegt. Die Validität der DNA-Auswertung zu Fahndungszwecken ist somit sehr begrenzt, bietet allerdings dennoch eine Grundlage für Racial Profiling, da die Polizei aufgrund der biogeographischen DNA-Analyse einen begründeten Verdacht von Tatverdächtigen etwa aus dem afrikanischen Raum aussprechen kann, der Fahndungserfolg bei diesen Personen somit wachsen dürfte und sich somit (straffällige) BIPoC häufiger in den Kriminalstatistiken wiederfinden werden.

        Mit diesen „wissenschaftlichen“ Methoden im Rücken lassen Rechte schon jetzt Gesetze verabschieden. Wie real die Gefahr einer staatlichen Nutzung von DNA-Auswertungen zur Abstammung von Personen bereits heute ist, zeigt etwa der Freistaat Bayern. Dieser umgeht im BayPAG (Bayerisches Polizeiaufgabengesetz) die ansonsten hohen Nutzungsanforderungen an die DNA-Analyse-Datei des Bundeskriminalamtes, indem er „zum Zwecke der Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters, [die Erfassung] des Geschlechts, der Augen-, Haar- und Hautfarbe, des biologischen Alters und der biogeographischen Herkunft des Spurenverursachers“ ermöglicht. (2,3,4,5) Diese Zwecke gehen weit über die reine 1:1-Überprüfung der Passung zweier Proben miteinander hinaus. Zwar scheiterte Bayerns Versuch, dies 2019 auch in der Strafprozessordnung des Bundes zu implementieren und somit bundesweit DNA-basiertes Racial Profiling zu ermöglichen. Eine im Koalitionsvertrag vereinbarte „Ausweitung“ der DNA-Analyse haben CDU und SPD in diesem Zuge allerdings bereits beschlossen.

        Nach Recherchen von belltower.news gab es in Deutschland bis vor wenigen Jahren bislang eine Untersuchung der „biogeographischen Herkunft“: bei der Ermordung durch den NSU der Polizistin Michelle Kiesewetter. Die DNA deutete angeblich auf „eine Frau osteuropäischer Herkunft“ als Täterin hin, was Sintize und Romnja einem Generalverdacht aussetzte (mindestens 800 Personen mussten eine Speichelprobe abgeben). Die DNA stammte von einer Mitarbeiterin der Firma, die die Wattestäbchen für die forensische Abteilung der Polizei herstellte. Die NSU- Mörder*innen blieben unentdeckt, der Zentralrat der Sinti und Roma beklagte noch 2018, Minderheiten würden „dadurch pauschal kriminalisiert und massiv verdächtigt.“ (6)

        Schlussendlich gilt: Humanität entsteht nicht durch Herkunft. Wer aufgrund seiner vermeintlich anteilig nicht-deutschen Herkunft glaubt, gegen Rassismus immun zu sein, weiß ebenso wenig über Humanität und Anstand wie der Blut-und-Boden-Nazi. Der Wert eines Menschen bemisst sich nicht nach seiner Herkunft -weder im Stammbaum, noch in der DNA.

        Die Jusos fordern daher alle Parteiinstanzen dazu auf, sich für die Einhaltung des geltenden Datenschutzrechts durch die Anbieter privater DNA-Tests einzusetzen. Das gilt insbesondere für den Grundsatz der Datenminimierung, der eine Anonymisierung der erhobenen Daten nach Abschluss des Auftrags der Käufer*innen vorschreibt, und für das Verbot, ohne Einwilligung der Käufer*innen Daten an Krankenkassen oder sonstige Dritte weiterzugeben. Es muss verhindert werden, dass umfangreiche Datenbanken mit den DNA-Informationen bestimmbarer Personen entstehen. Außerdem muss sichergestellt werden, dass die Käufer*innen über die bestehenden Zweifel an der Aussagekraft der Analyseverfahren informiert werden. Die Rückführung auf bestimmte Nationalitäten ist nicht seriös und im Sinne des Verbraucher*innenschutzes zu untersagen.

        Für den strafprozessualen Rahmen fordern die Jusos weiterhin, auch hier auf Tests zur methodisch umstrittenen Ermittlung der “biogeographischen Herkunft” zu Fahndungszwecken zu verzichten und auch die genetische Ermittlung von Haut-, Augen- und Haarfarbe zu Fahndungszwecken zu untersagen.. Ein direkter Abgleich zweier DNA-Proben miteinander, wie er bereits seit vielen Jahren zur Identifizierung von Täter*innen im Zuge von Ermittlungsverfahren vorgenommen wird, soll weiterhin möglich sein. Ein entsprechendes Verbot der Ermittlung der „biogeographischen Herkunft“ muss schließlich im Gefahrenabwehrrecht der Länder verankert werden. Vor allem bei der Prävention von Straftaten besteht sonst die Gefahr rassistischer Diskriminierungen. Regelungen wie Art. 32 Abs. 1 S. 2 BayPAG sind daher zu unterlassen bzw. aufzuheben.

         

        Quellennachweise:

        (1) https://taz.de/Genetiker-ueber-Herkunftsnachweise/!5550032/

        (2) https://netzpolitik.org/2018/bayern-als-vorbild-polizei-soll-bald-nach-genetischer-herkunft-fahnden-duerfen/

        (3) https://netzpolitik.org/2019/dna-ist-kein-augenzeuge-der-eine-aussage-machen-moechte/

        (4) https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/vertiefte-dna-analyse-verbot-bayern-polizei-rechtsgrundlage-landesrecht-umgehung/

        (5) https://www.dr-datenschutz.de/bayerische-polizei-nutzt-dna-analyse-schlupfloch-datenschutz-ja-mei/

        (6) https://zentralrat.sintiundroma.de/racial-profiling-und-erweiterte-dna-analysen-in-kriminalpolizeilichen-ermittlungen/

        I1 10 Jahre Selbstenttarnung des NSU - immer noch alle Fragen offen

        2.09.2021

        Einordnung des NSU-Komplex

        Am 4. November 2011 steht  in einem Wohngebiet in Eisenach ein weißes Wohnmobil. Zwei Streifenpolizisten näherten sich diesem gegen 12 Uhr. Es sind Schüsse zu hören und kurz darauf gibt es einen Knall, das Wohnmobil geht in Flammen auf. Darin befanden sich die beiden Neonazis und Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. In Zwickau verlässt die Komplizin von Mundlos und Böhnhardt und ebenfalls Neonazi Beate Zschäpe gegen 15 Uhr eilig das Mehrfamilienhaus, in dem kurz darauf die Wohnung des Trios explodiert. In den nächsten Tagen flüchtet Zschäpe quer durch die Bundesrepublik und verteilt DVDs mit dem Bekennervideo zu den Taten des Trios an Redaktionen und Polizeistationen. Am 8. November 2011 endet Zschäpes Flucht, sie stellt sich auf einer Polizeistation in Jena. Was in den folgenden Wochen und Monaten klar wird, ist das Ausmaß der rassistisch motivierten Verbrechen des nationalsozialistischen Untergrunds, das eklatante Versagen der Ermittlungsbehörden von Polizei bis Verfassungsschutz sowie die Folgen gesellschaftlicher Ignoranz gegenüber der Gefahr des Rechtsextremismus.

        Vom 9. September 2000 bis zum 6. April 2006 ermordete der NSU Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodorus Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat. Sie alle waren Kleinunternehmer mit türkischem oder griechischem Migrationshintergrund. Die Morde waren rassistisch motiviert. Außerdem erschoss der NSU am 25. April 2007 die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn. Des Weiteren sind dem NSU zwei Sprengstoffanschläge, ein Nagelbombenattentat und zahlreiche Raubüberfälle zuzurechnen.

        Die Ermittlungen in den Mordfällen waren geprägt von Rassismus und Antiziganismus. Hinweise von den Angehörigen es könne sich um rechte Straftaten handeln, wurden von den Ermittlungsbehörden nicht ernst genommen. Stattdessen wurde ein nicht existierender Zusammenhang zur türkischen Mafia herbei imaginiert. Erst durch die Selbstenttarnung des NSU wurde den Ermittler*innen klar, dass es sich um rechtsextrem motivierte Morde handelt. Daraufhin warfen sich Fragen auf, wie das Trio so lange unbemerkt abtauchen und morden konnte, welches Netzwerk das Trio gehabt hat und welche Rolle der Verfassungsschutz gespielt hat. 2013 kommt es zum Prozess gegen Beate Zschäpe und drei Unterstützer des NSU. Nach dem Urteil 2018 bleiben dennoch viele Fragen offen.

        Das Kerntrio des NSU stammt aus Jena in Thüringen. Dort lernten sie sich kennen und radikalisierten sich in den 1990er Jahren. Das Trio war in der rechtsextremen Szene gut vernetzt und in den rechtsextremen Gruppierungen Thüringer Heimatschutz und Nationaler Widerstand Jena. Während der Behörden und Gesellschaft das rechtsextreme Problem in Jena bekannt war, konnten die drei sich radikalisieren, Bombenattrappen deponieren und in einer Garage ihre Bombenwerkstatt mit funktionsfähigen Rohrbomben einrichten. Als diese 1998 entdeckt wurde, war das Trio schon untergetaucht.

        Nach dem ersten NSU-Prozess und 10 Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU ist von Aufklärung, Konsequenzen und Erinnerung noch viel zu wenig zu sehen. Wie konnte sich das Trio ungehindert radikalisieren, untertauchen und morden? Warum waren die Ermittlungen voller Fehler? Was wusste der Verfassungsschutz? Wie sieht das Netzwerk des Trios aus? Gibt es weitere Opfer? Gibt es weitere Täter*innen?

        V wie Versagen

        52 Kontakte der Neonaziszene wurden am 26. Januar bei der Durchsuchung der Bombenwerkstatt von UWE Böhnhardt sichergestellt, nachdem die Neonazis verschiedene Organisationen mit Briefbombenattrappen bedrohten. Die Durchsuchung offenbarte schon früh in den Ermittlungen zum NSU-Komplex die Verbindung von Verfassungsschutz und NSU. Insgesamt 4 Kontakte sogenannter V-Personen, menschlicher Quellen von Polizei und Geheimdiensten innerhalb der Neonazi-Szene, fanden sich auf der als Garagenliste bekannten Kontaktsammlung. Unter ihnen auch der Gründer und Kopf der Kameradschaft Thüringer Heimatschutz (THS), Tino Brandt. Als Informant des Verfassungsschutzes lieferte Tino Brandt dem Geheimdienst Erkenntnisse zur Thüringer Neonaziszene und erhielt im laufe seiner Tätigkeit im Gegenzug rund 200.000 DM vom Verfassungsschutz. Geld, das direkt für den Aufbau der Neonazistruktur, in der sich die NSU-Haupttäter Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe bis zu ihrem Gang in den Untergrund radikalisierten, verwendet wurde. Ein Ermittlungsverfahren, das zum Verbot des THS geführt hätte, wurde nach Aussage eines Kriminalbeamten behindert und später 1997 eingestellt. Tino Brandt war dabei nicht die einzige V-Person, die den THS mutmaßlich mit Geldern des Verfassungsschutzes im Aufbau unterstützte.

        Hat der Verfassungsschutz den Aufbau des THS gezielt gefördert, um einfacheren Zugang und Einblick in die rechtsradikale Szene zu erhalten? Wurde auf polizeiliche Ermittlungsverfahren Einfluss genommen? Und wie konnte aus dem gut beobachteten THS der NSU entstehen ohne, dass der Verfassungsschutz, nach eigener Angabe, Kenntnis über Aufenthaltsorte der Terrorist*innen hatte? Diese und weitere Fragen konnten bis heute nicht geklärt werden, weil die Bundesanwaltschaft und der Geheimdienst immer wieder Informationen im Prozess zurück hielten, die ihre V-Männer hätten belasten können.

        Dabei nimmt das Unterstützer*innen-Netzwerk von V-Personen immer wieder wichtige Rollen in der Vorbereitung der Mordanschläge und der Finanzierung des Untergrundlebens ein. Tino Brandt organisierte Spendensammlungen auf Konzerten. Thomas Starke, Verbindungsperson des LKA Sachsen, unterstütze den NSU bei der Suche nach einem Unterschlupf in Chemnitz und besorgte Uwe Böhnhardt das TNT, das später für die Bombenattrappen verwendet wurde. Jule W. half Beate Zschäpe im Untergrund und war mehrmals in der Zwickauer Wohnung. Tino S. wurde nur wenige Tage vor dem Mord des Dortmunder Kioskbesitzer Mehmet Kubaşık mit Uwe Mundlos in der Nähe des späteren Tatorts gesichtet.

        Die fragwürdige Rolle des Verfassungsschutzes im NSU-Komplex beschränkt sich jedoch nicht auf die V-Personen in der Szene. Die Rolle des Verfassungsschützers und V-Führers Andreas Temme beim Mord an Halit Yozgat in einem Kasseler Internetcafé konnte im NSU-Prozess trotz widersprüchlicher Aussagen nicht vollständig aufgeklärt werden. Am 06. April 2006 stürmen die Täter in das Internetcafé und erschießen den 21-Jährigen. Während des Mordes befindet sich der Beamte Andreas Temme im Hinterraum des Cafés, in dem er regelmäßig Gast ist, und will nichts vom Mord bemerkt haben. „Sehr, sehr unglaubwürdig“, wie ein Beamter im Ermittlungsverfahren gegen Temme feststellt und später durch ein forensisches Gutachten bestätigt wurde.Die Reihe von Lügen und Schutzbehauptungen erschienen den Richter*innen im Prozess als glaubwürdig.

        Auch wenn die Anwesenheit des Agenten im Internetcafé nur Zufall gewesen sein sollte, bleibt vom Kasseler Mordfall eine lange Liste von Behinderungen des Ermittlungsverfahrens durch den Verfassungsschutz und ein politischer Skandal um einen Ministerpräsidenten, der die Vernehmung von weiteren Quellen des Verfassungsschützers verhinderte.

        Aufklärung

        Bei der Gedenkfeier für die Ermordeten am 23. Februar 2012 versprach Bundeskanzlerin Angela Merkel die lückenlose Aufklärung. Zehn Jahre später sind die Lücken aber noch lange nicht geschlossen. Ein erster Schritt muss die sofortige Freigabe der NSU-Akten sein, die für mehrere Jahrzehnte unter Verschluss gehalten werden sollen. Um die rechten Netzwerke, Unterstützer*innen und die Rolle der Ermittlungsbehörden umfänglich aufzudecken, muss der Inhalt der Akten zugänglich sein. Außerdem dürfen die  Akten nicht geschwärzt sein und es muss aufgeklärt werden, warum 2012 vom Verfassungsschutz Akten zum NSU vernichtet wurden. Eine Rekonstruktion der Akten bzw. des Inhalts muss so gut wie möglich stattfinden. Dazu gehört auch, dass vom Verfassungsschutz eingesetzte V-Männer aussagen und die Behörde die Aufklärung nicht mehr aktiv verhindern darf. Des Weiteren muss die Frage geklärt werden, wie es sein kann, dass im Umfeld des Kerntrios mehrere V-Männer vom Verfassungsschutz positioniert wurden und trotzdem keine Morde verhindert wurden und das Kerntrio erst durch die Selbstenttarnung aufflog. Dabei stellt sich auch die Frage was der Verfassungsschutz wusste und damit auch die Frage danach, ob und wenn ja was diese Behörde vertuschen will.

        Eine weitere Frage, die es unbedingt zu klären gilt, ist die wie und warum die Tatorte und die Opfer ausgewählt wurde. Im Prozess sagte Zschäpe aus, dass sie immer erst im Nachhinein von den Taten erfahren habe, was aus verschiedenen Gründen allerdings unglaubwürdig ist. Für die Angehörigen der Opfer stellt die Beantwortung dieser Frage eine zentrale Rolle in der Aufklärung. Das Kerntrio lebte in Chemnitz und später in Zwickau. Die Tatorte waren in Nürnberg, Rostock, Kassel, Dortmund, München, Hamburg, Köln und Heilbronn. Außerdem waren die Tatorte nicht an öffentlichen Plätzen, sondern gezielt in Geschäften von Menschen mit türkischer oder griechischer Migrationsgeschichte. Bei genauerer Betrachtung der Fälle wird deutlich, dass die Taten mittels einer genaueren Auskundschaftung der Tatorte und der Tagesabläufe der Opfer möglich waren. Es gibt kaum bis keine Hinweise darauf, dass das Kerntrio sich vor den Taten länger in den Städten aufgehalten hat. Demzufolge muss es Unterstützer*innen geben, die für das Kerntrio die Tatorte und Opfer beobachtet haben und Informationen geliefert haben. Diese Unterstützer*innen gilt es zu finden und ihre Rolle juristisch aufzuarbeiten. Dabei muss auch die Trio-These kritisch betrachtet werden. Bereits in den 1990er Jahren war das Kerntrio gut in der Neonazi-Szene vernetzt. Den Angeklagten im NSU-Prozess konnte Unterstützung bei der Beschaffung von Dokumenten, Wohnungen, Geld und Waffen nachgewiesen werden, die Unterstützung durch weitere Neonazis ist allerdings nicht vollständig aufgeklärt.

        Laut dem NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag beläuft sich die Zahl der Helfer*innen und Helfershelfer*innen auf 129, wobei dies eine vorläufige Zahl ist. Dass hier weitere Ermittlungen, welche teilweise von der Staatsanwaltschaft auch schon aufgenommen wurden, notwendig sind, ist offensichtlich. Die Fortführung rechter Gewalt in Deutschland wie zuletzt in Chemnitz, Hanau, Halle und Kassel zeigt, dass rechte Netzwerke gefährlich sind und aufgedeckt werden müssen. Verbindungen zum NSU-Netzwerk sind hierbei nicht unwahrscheinlich, weshalb die lückenlose Aufklärung auch Prävention weiterer rechter Gewalt ist. So gibt es auch mögliche Verbindungen zwischen dem Mord an Halit Yozgat in Kassel am 6. April 2006 und dem Mord an Walter Lübcke 2018, ebenfalls in Kassel.

        Zum Schluss stellt sich noch die Frage nach dem eklatanten und flächendeckenden Ermittlungsversagen sämtlicher Behörden. Der Beginn lag schon darin, dass 1998 bei der Durchsuchung der Garage des Kerntrios in Jena Böhnhardt von der Polizei gehen gelassen wurde und die nun gewarnten Neonazis untertauchen konnten. Die Ermittlungen der Mordfälle waren von starken institutionellen Rassismus geprägt. So wurde beispielsweise die rassistische Motivation hinter den Morden von der Polizei ausgeschlossen, obwohl Angehörige darauf hinwiesen. Stattdessen wurde von angeblichen Mafiageschäften und Drogenhandel geredet. Allein das Wording “SOKO Halbmond” oder “Dönermorde” zeigt, wie in deutschen Institutionen und Medien Rassismus reproduziert wurde und wird. Auch die Frage danach was der Verfassungsschutz wusste, ist offen. Aus der Aufklärung über die Fehler bei den Ermittlungen müssen Konsequenzen folgen.

        Das Versprechen der lückenlosen Aufklärung muss endlich eingelöst werden. Darum ist es dringend notwendig weitere Ermittlungen zu führen und die Akten freizugeben. Auch die Frage, ob es weitere Taten des NSU gab, muss geklärt werden. Wir werden keinen Schlussstrich ziehen. Wir fordern Aufklärung und Konsequenzen!

        Gedenken und Erinnerung

        Wichtig ist es auch den Opfern und Betroffenen zu gedenken und die Erinnerung an sie aufrecht zu erhalten. Dabei stehen wir bedingungslos solidarisch an der Seite der Angehörigen. In den Städten, in denen die Morde begangen wurden, und in Jena gibt es schon regelmäßig Gedenkveranstaltungen für die Ermordeten. Auch einige Straßen wurden nach ihnen benannt. Diese meist lokalen Initiativen unterstützen wir. Es reicht jedoch nicht aus die Aufgabe des Gedenkens und der Erinnerung an einzelne Gruppen oder Einzelpersonen abzuwälzen. Es braucht eine eigene Erinnerungskultur für die Opfer rechter Gewalt, wozu auch eine Erinnerungskultur für die Opfer des NSU gehört. Diese Erinnerungskultur muss von Staat und Zivilgesellschaft unterstützt und gestaltet werden. Am wichtigsten ist dabei die Solidarität mit den Angehörigen und die Erinnerung an die Opfer. Jede weitere Forderung nach der Umbenennung von Straßen, Gedenkveranstaltungen und weiteren gedenk- und erinnerungskulturellen Anliegen sind darum zu unterstützen. Für das was geschah gibt es kein Vergeben und kein Vergessen.

        Prozess

        Der Prozess gegen Beate Zschäpe und André Eminger, Holger Gerlach, Ralf Wohlleben und Carsten Sch. begann am 6. Mai 2013 vor dem Oberlandesgericht (OLG) in München und endete nach fünf Verhandlungsjahren mit dem Urteil 2018. Das OLG verurteilte Beate Zschäpe als Mittäterin unter anderem wegen Mordes in zehn Fällen, versuchten Mordes in 23 Fällen und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu lebenslanger Freiheitsstrafe und stellte die besondere schwere der Schuld fest. Doch dieser war durch die eingelegte Revision 2018 noch nicht rechtskräftig und auch wenn mit einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes nächstes Jahr gerechnet werden kann, wird relativ schnell klar, dass dies kein Schlussstrich sein darf.

        Denn gleichzeitig werden Stimmen lauter, die auf fehlerhafte Herangehensweisen aus einer antifaschistischen und betroffenen Perspektive sichtbarer machen. Berechtigterweise steht der Einwand im Raum, dass der Fokus allein auf das Trio und ihr nächstes Umfeld den Netzwerkcharakter des Nationalsozialistischen Untergrundes nicht anerkennt. Dabei hat das Gericht die Chance verpasst, aufzuzeigen, dass der NSU ganz eng mit den militanten Nazi-Strukturen wie Blood and Honour, Kameradschaften und dem Thüringer Heimatschutz verbunden war. Die Aufklärung wurde sogar gezielt unterbunden, indem der Nebenklage nicht die komplette Akteneinsicht gewährt wurde und bei der Beweisaufnahme die ans Licht gebrachten Informationen zu den Verbindungen zu Blood and Honour aus dem Urteil herausgehalten wurden. Zudem wurde ebenfalls die Rolle der Nachrichtendienste und der Polizei im Urteil nicht beleuchtet. Ebenfalls wurde im Urteil rassistische Narrative aufgegriffen und all die Mordopfer des NSU werden in keinem Satz als individuelle Menschen aufgeführt, sondern vielmehr nur mit rassistischen stereotypen beschrieben. Weitere juristische Fehler versuchen die Anwält*innen der Nebenklage seit Jahren sichtbar zu machen, doch mit dem Urteil 2018 nahm das Gericht die Erfüllung ihrer Aufgabe an. Doch dabei sind immer die Ziele eines Strafverfahrens im Hinterkopf zu behalten. Der Sinn und Zweck des Strafverfahrens, dessen wesentlichen Punkte die Wahrheitsfindung, Rechtsstaatlichkeit und Rechtsfrieden sind, wurde im NSU-Prozess vor allem durch die Nebenklage forciert und dies – trotz – instabilen Rechtsposition der Nebenklage in einem Strafverfahren. Viele Punkte in dem Prozess haben nur durch den Nachdruck der Nebenklage an Bedeutung gewonnen. Deshalb muss es prozessual bedeuten, dass das Urteil niemals ein Schlussstrich sein kann und die Aufklärung auch über das Urteil hinaus weitergehen muss. Dabei ist von großer Bedeutung, dass sämtliche Akten zugänglich sein müssen! 

        Forderungen

        • Wir fordern die Zerschlagung des NSU-Komplex! Um weitere Ermittlungsverfahren gegen Teile des Komplexes zu ermöglichen, fordern wir die Freigabe, der vom VS zurückgehalten Akten, der Gerichtsakten des OLG München, der Ermittlungsakten der Bundesanwaltschaft und die weitere Untersuchung in den 13 Untersuchungsausschüssen der Landtage und des Bundestages.
        • Die Ermittlungsverfahren und der Prozess fußten viel zu lange auf rassistischen Stereotypen. Der Rassismus in den Ermittlungsbehörde hat das Täter*innennetzwerk geschützt. Wir fordern eine schonungslose Aufarbeitung in den Institutionen und ein Ende des Staatsrassismus.
        • Das Urteil ist kein Schlussstrich! Wir wollen ein würdiges und öffentliches Gedenken an die Opfer der NSU-Morde und gesellschaftliche Solidarität mit den Angehörigen und von Rassismus Betroffenen. Die Stärkung der Erinnerungskultur ist dabei zivilgesellschaftliche und staatliche Aufgabe zugleich.
        • Verfassungsschutz abschaffen! Nicht nur, dass der VS mit der zweifelhaften V-Personen-Praxis Neonazis und ihre Strukturen finanziell gestützt hat, der NSU hat auch deutlich gemacht, dass auch ein großes Netzwerk an Informant*innen schwere Straftaten nicht verhindern kann. Der Verfassungsschutz hat in Gänze versagt und die Verurteilung von Täter*innen durch seine Politik erschwert bis verhindert. Dieser Geheimdienst darf in dieser Form nicht fortbestehen.

        G3 Recht auf eine offene Zukunft: Medizinische Selbstbestimmung einsichts- und urteilsfähiger Minderjähriger sichern!

        2.09.2021

        Die Landeskonferenz der NRW Jusos möge beschließen:

        Bei der Selbstbestimmungsfähigkeit Minderjähriger im Rahmen medizinischer Eingriffe handelt es sich um eine schwierige rechtliche Frage – sowohl in verfassungs- als auch in familien- und allgemein zivilrechtlicher Hinsicht. Aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht folgendes Selbstbestimmungsrecht der Minderjährigen im höchstpersönlichen Bereich, das mit dem Elternrecht verbundene Fremdbestimmungsrecht und arztrechtliche Haftungsfragen treffen aufeinander.

        Zusätzlich verkompliziert sich die rechtliche Gemengelage, wenn es um eine spezielle Form des medizinischen Eingriffs geht: um Schwangerschaftsabbrüche an Minderjährigen. Hier tritt zu den beschriebenen Aspekten noch der des Schutzes des ungeborenen Lebens hinzu, welcher derzeit durch die §§ 218 ff. StGB verwirklicht wird. Angesichts des in anderen Altersgruppen so nicht anzutreffenden leichten Überwiegens der Abtreibungen gegenüber den Lebendgeburten (im Jahr 2018 2746 : 2445, vgl. DeStatis, Lebendgeburten nach dem Alter der Mutter und DeStatis, Schwangerschaftsabbrüche nach dem Alter der Frauen) ist dies auch von besonderer praktischer Relevanz. Erwähnt wird dieses Beispiel an dieser Stelle aus zwei Gründen: Erstens hat vor nicht allzu langer Zeit das OLG Hamm (Beschluss v. 29.11.2019 – 12 UF 236/19, u.a. in MedR 2020, 679) eine beeindruckende Abkehr von der eigenen (und herrschenden) Rechtsprechungslinie genommen und zweitens zeigt sich hier besonders eindrücklich, wieso eine Regelung der Entscheidungszuständigkeit so wichtig ist (dazu im Folgenden mehr).

        Wie bereits angedeutet, handelt es sich bei Entscheidungen für oder gegen medizinische Behandlungen – freilich abgestuft nach Intensität und Dringlichkeit des Eingriffs – um höchstpersönliche. Sie können immense Auswirkungen auf das spätere Leben des:der Patient:in haben. Umso erstaunlicher ist, dass die Zuständigkeit für solche Entscheidungen im Gesetz nicht explizit festgelegt ist, entsprechend sowohl Gerichte als auch Ärzt:innen nicht nur zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, sondern sogar verschiedene Maßstäbe anlegen: Hier wird teilweise angenommen, dass Eltern immer zuständig seien, solange ihr Kind minderjährig ist und das Gesetz keine sog. Teilmündigkeit vorsieht. Andere gehen davon aus, dass dem Kind (bloß) ein Mitentscheidungs-, im Sinne eines Veto-Rechts zustünde, wieder andere räumen ihm ein Selbstbestimmungsrecht ein. Innerhalb der letzten beiden Ansichten wird dann häufig nochmal je nach Alter und/oder Fähigkeiten des Kindes sowie nach Art und Schwere des Eingriffs differenziert.

        Dies erscheint nicht nur unübersichtlich und wenig vorhersehbar, sondern auch mit den Grundrechten des Kindes – und damit mit Verfassungsrecht – unvereinbar:

        Die elterliche Sorge gem. § 1626 Abs. 1 BGB konkretisiert das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 GG und erklärt ohne Differenzierung bis zur Volljährigkeit gem. § 2 BGB die Eltern für entscheidungszuständig. Abseits gesetzlich geregelter Eigenzuständigkeiten des Kindes werden „übergesetzliche“ Eigenzuständigkeiten im Einzelfall diskutiert; hierzu gehören auch die Bestimmung über medizinische Behandlungen und als Unterfall der Schwangerschaftsabbruch. Dies liegt darin begründet, dass die Grundrechte im Verhältnis von Privaten untereinander – im Gegensatz zum Verhältnis zum Staat – zwar lediglich mittelbare (Dritt-) Wirkung entfalten, jedoch aufgrund der Besonderheit des Elternrechts besonders zu berücksichtigen sind: Schließlich stellte schon das BVerfG fest, dass eine menschenwürdezentrierte Verfassung nur pflichtgebundene Rechte an einer anderen Person einräumen könne, und das Elternrecht seine Rechtfertigung in dem Entwicklungsdefizit des Kindes, welches wiederum selbst Grundrechtsträger sei, finde (BVerfGE 24, 119 [Adoption I]); später führte es aus, dass das Elternrecht lediglich eine treuhänderische Freiheit sei, die zurücktrete, wenn das Kind eine genügende Reife erlangt hat (BVerfGE 59, 360 [Schülerberater]). Die schleichende Abnahme des Funktionsumfangs wird auch durch § 1626 Abs. 2 BGB betont, aber schon § 1626 Abs. 1 als einfachgesetzliche Konkretisierung kann den Eltern nur Rechte in Bezug auf das Kind übertragen, sofern und soweit diese auch von der Verfassung gestützt werden.

        Die Vertreter:innen der „Eltern-sind-allzuständig-Ansicht“ übertragen die für Willenserklärungen (z.B.: Angebot des Verkaufs der eigenen Schulbücher) anwendbaren Regelungen auf medizinische Eingriffe. Dies widerspricht jedoch schon der Intention des Gesetzgebers, der in § 630d BGB die Notwendigkeit der Einwilligung des:der Patient:in in den medizinischen Eingriff unabhängig von dem Abschluss eines Behandlungsvertrags (!) geregelt hat. Und nicht nur das – diese Sichtweise verkennt völlig die Grundrechtsinhaberschaft auch des minderjährigen Kindes!

        Ähnliches gilt für die Vertreter:innen bloßer Veto-Theorien und Verfechter:innen bestimmter Altersgrenzen: Ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet Minderjährigkeit bloß altersspezifische Schutzbedürftigkeit; liegt diese nicht mehr vor, da das Kind fähig zur Selbstbestimmung geworden ist, schlägt die gesetzliche Vertretung durch die Eltern in eine Zwangsordnung um und büßt ihre Legitimation ein (Schwerdtner, NJW 1999, 1525, 1526). Wann das Kind fähig zur Selbstbestimmung ist, lässt sich entwicklungspsychologisch nur im Einzelfall bestimmen. Zudem ist ein relevanter Unterschied zu Erwachsenen, die sich ebenfalls in einer Lage befinden können, die ihre Selbstbestimmungsfähigkeit ausschließt (etwa Krankheit, Drogenkonsum), nicht ersichtlich –hier wird der Einzelfall individuell betrachtet. Dementsprechend legt auch der BGH in seiner ständigen Rechtsprechung die individuelle Einsichts- und Urteilsfähigkeit als Maßstab an. Im Übrigen ist auch die verkomplizierte Gemengelage bei Schwangerschaftsabbrüchen keine minderjährigenspezifische Problematik – dementsprechend sind hier die für die Einwilligungsfähigkeit im Allgemeinen anzulegenden Maßstäbe anzuwenden.

        Daher ist eine starre Altersgrenze abzulehnen. Die Festlegung von Regelvermutungen erscheint demgegenüber möglich, wenn auch angesichts zu befürchtender Ankereffekte und der Gefahr eines unrichtigen Verständnisses bei den Entscheidungsträger:innen unterlegen gegenüber einer offenen, bloß an die Einwilligungs- und Urteilfähigkeit anknüpfenden Formulierung.

        Das Persönlichkeitsrecht Minderjähriger wird also derzeit – trotz gesellschaftlichen und rechtlichen Wandels (s. nur Züchtigungsverbot des § 1631 BGB seit 2000 und Berücksichtigungspflicht nach § 1626 Abs. 2 BGB) – nicht hinreichend berücksichtigt. Es fehlt eine Regelung etwa nach Schweizer Vorbild. So heißt es in Art. 19c Schweiz. ZGB: „„Urteilsfähige handlungsunfähige Personen üben die Rechte, die ihnen um ihrer Persönlichkeit willen zustehen, selbstständig aus; vorbehalten bleiben Fälle, in welchen das Gesetz die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters vorsieht. Für urteilsunfähige Personen handelt der gesetzliche Vertreter, sofern nicht ein Recht so eng mit der Persönlichkeit verbunden ist, dass jede Vertretung ausgeschlossen ist.““

        Die richtigerweise zu praktizierende verfassungskonforme Auslegung des § 1626 Abs. 1 BGB inklusive Annahme einer übergesetzlichen Ausnahme bei medizinischen Eingriffen ist bietet nicht nur keinerlei Rechtssicherheit für die Betroffenen, sondern ist auch sehr umständlich: Der eigentlich einheitliche Vorgang der Behandlung (entsprechend der Gesetzeskonzeption) künstlich in einen zustimmungsfreien und einen zustimmungspflichtigen Teil aufspaltet. Die Einwilligung in die sonst vorliegende Körperverletzung Behandlung kann dann zwar der:die Minderjährige selbst erteilten, für den Absluss des Behandlungsvertrags braucht er:sie aber seine:ihre Eltern. Dementsprechend ist eine einheitliche Regelung medizinischer Behandlungen, die beide Aspekte zur Parallelität führt, anzustreben.

        Daher fordern wir, den Schutz des medizinischen Selbstbestimmungsrechts Minderjähriger durch geeignete, ihre Grundrechte hinreichend berücksichtigender Rechtsnormen im Sinne der Anerkennung ihres Rechts auf eine offene Zukunft.

        Wir fordern die Erarbeitung einer Rechtsnorm, die für medizinische Eingriffe an Minderjährigen explizit die Entscheidungszuständigkeit festlegt. Hierbei sollte angesichts der zu berücksichtigenden Grundrechte des Kindes die individuelle Einsichts- und Urteilfähigkeit als Ausgangspunkt der Zuständigkeit für die zu erteilende Einwilligung genommen werden. Die Regelung einer entsprechenden Teilmündigkeit für den Abschluss des Behandlungsvertrags ist anzustreben.

        Zudem fordern wir den Schutz nicht selbstbestimmungsfähiger Minderjähriger insbesondere vor aufschiebbaren, aber irreversiblen und ggf. schwerwiegenden medizinischen Entscheidungen ihrer Eltern.

        Zur Illustration: Am 21.5.2021 wurde das Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung verkündet. Dieses beinhaltet das Verbot geschlechtsverändernder operativer Eingriffe an Kindern durch Einschränkung der Personensorge der Eltern, eine Ausnahme für solche Eingriffe, die das Familiengericht zur Abwendung einer Lebensgefahr oder erheblichen Gesundheitsgefahr genehmigt hat und eine Ausnahme für solche Eingriffe ohne Bezug zu einer Lebens- oder Gesundheitsgefahr, die ein mindestens 14jähriges Kind begehrt, wenn weitere Voraussetzungen eingehalten sind (u. a. Zustimmung der Eltern und Genehmigung des Familiengerichts).

        Am 12.6.2020 wurde das Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen verkündet. Zwar handelt es sich bei diesen sog. „Behandlungen“ nicht um solche, sondern einfach nur um Maßnahmen, die auf die „Heilung“ von Homosexualität zielen und damit menschenrechtsfeindliche Umerziehungsversuche darstellen. Das Gesetz zeigt jedoch, ebenso wie das zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung ein wichtiges Problem auf:

        Eltern sind insbesondere durch den Persönlichkeitskern betreffende, medizinische Entscheidungen in der Lage, das Leben ihres Kindes nachhaltig zu beeinflussen – sowohl durch Tun als auch durch Unterlassen. Hier reichen die derzeitigen Instrumente (insb. Untersuchung auf eine mögliche Kindeswohlverletzung durch Jugendamt und Familiengericht) nicht aus, da sie häufig erst ergriffen werden, wenn das Kind sprichwörtlich in den Brunnen gefallen ist.

        Daher fordern wir zumindest eine allgemeine gerichtliche Genehmigungspflichtigkeit, wenn nicht sogar eine Pflicht zur Aufschiebung der Entscheidung bis zur Selbstbestimmungsfähigkeit für Eingriffe, die aufschiebbar sind und eine gewisse Schwere haben, insbesondere irreversibel sind.