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I1 10 Jahre Selbstenttarnung des NSU - immer noch alle Fragen offen

2.09.2021

Einordnung des NSU-Komplex

Am 4. November 2011 steht  in einem Wohngebiet in Eisenach ein weißes Wohnmobil. Zwei Streifenpolizisten näherten sich diesem gegen 12 Uhr. Es sind Schüsse zu hören und kurz darauf gibt es einen Knall, das Wohnmobil geht in Flammen auf. Darin befanden sich die beiden Neonazis und Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. In Zwickau verlässt die Komplizin von Mundlos und Böhnhardt und ebenfalls Neonazi Beate Zschäpe gegen 15 Uhr eilig das Mehrfamilienhaus, in dem kurz darauf die Wohnung des Trios explodiert. In den nächsten Tagen flüchtet Zschäpe quer durch die Bundesrepublik und verteilt DVDs mit dem Bekennervideo zu den Taten des Trios an Redaktionen und Polizeistationen. Am 8. November 2011 endet Zschäpes Flucht, sie stellt sich auf einer Polizeistation in Jena. Was in den folgenden Wochen und Monaten klar wird, ist das Ausmaß der rassistisch motivierten Verbrechen des nationalsozialistischen Untergrunds, das eklatante Versagen der Ermittlungsbehörden von Polizei bis Verfassungsschutz sowie die Folgen gesellschaftlicher Ignoranz gegenüber der Gefahr des Rechtsextremismus.

Vom 9. September 2000 bis zum 6. April 2006 ermordete der NSU Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodorus Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat. Sie alle waren Kleinunternehmer mit türkischem oder griechischem Migrationshintergrund. Die Morde waren rassistisch motiviert. Außerdem erschoss der NSU am 25. April 2007 die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn. Des Weiteren sind dem NSU zwei Sprengstoffanschläge, ein Nagelbombenattentat und zahlreiche Raubüberfälle zuzurechnen.

Die Ermittlungen in den Mordfällen waren geprägt von Rassismus und Antiziganismus. Hinweise von den Angehörigen es könne sich um rechte Straftaten handeln, wurden von den Ermittlungsbehörden nicht ernst genommen. Stattdessen wurde ein nicht existierender Zusammenhang zur türkischen Mafia herbei imaginiert. Erst durch die Selbstenttarnung des NSU wurde den Ermittler*innen klar, dass es sich um rechtsextrem motivierte Morde handelt. Daraufhin warfen sich Fragen auf, wie das Trio so lange unbemerkt abtauchen und morden konnte, welches Netzwerk das Trio gehabt hat und welche Rolle der Verfassungsschutz gespielt hat. 2013 kommt es zum Prozess gegen Beate Zschäpe und drei Unterstützer des NSU. Nach dem Urteil 2018 bleiben dennoch viele Fragen offen.

Das Kerntrio des NSU stammt aus Jena in Thüringen. Dort lernten sie sich kennen und radikalisierten sich in den 1990er Jahren. Das Trio war in der rechtsextremen Szene gut vernetzt und in den rechtsextremen Gruppierungen Thüringer Heimatschutz und Nationaler Widerstand Jena. Während der Behörden und Gesellschaft das rechtsextreme Problem in Jena bekannt war, konnten die drei sich radikalisieren, Bombenattrappen deponieren und in einer Garage ihre Bombenwerkstatt mit funktionsfähigen Rohrbomben einrichten. Als diese 1998 entdeckt wurde, war das Trio schon untergetaucht.

Nach dem ersten NSU-Prozess und 10 Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU ist von Aufklärung, Konsequenzen und Erinnerung noch viel zu wenig zu sehen. Wie konnte sich das Trio ungehindert radikalisieren, untertauchen und morden? Warum waren die Ermittlungen voller Fehler? Was wusste der Verfassungsschutz? Wie sieht das Netzwerk des Trios aus? Gibt es weitere Opfer? Gibt es weitere Täter*innen?

V wie Versagen

52 Kontakte der Neonaziszene wurden am 26. Januar bei der Durchsuchung der Bombenwerkstatt von UWE Böhnhardt sichergestellt, nachdem die Neonazis verschiedene Organisationen mit Briefbombenattrappen bedrohten. Die Durchsuchung offenbarte schon früh in den Ermittlungen zum NSU-Komplex die Verbindung von Verfassungsschutz und NSU. Insgesamt 4 Kontakte sogenannter V-Personen, menschlicher Quellen von Polizei und Geheimdiensten innerhalb der Neonazi-Szene, fanden sich auf der als Garagenliste bekannten Kontaktsammlung. Unter ihnen auch der Gründer und Kopf der Kameradschaft Thüringer Heimatschutz (THS), Tino Brandt. Als Informant des Verfassungsschutzes lieferte Tino Brandt dem Geheimdienst Erkenntnisse zur Thüringer Neonaziszene und erhielt im laufe seiner Tätigkeit im Gegenzug rund 200.000 DM vom Verfassungsschutz. Geld, das direkt für den Aufbau der Neonazistruktur, in der sich die NSU-Haupttäter Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe bis zu ihrem Gang in den Untergrund radikalisierten, verwendet wurde. Ein Ermittlungsverfahren, das zum Verbot des THS geführt hätte, wurde nach Aussage eines Kriminalbeamten behindert und später 1997 eingestellt. Tino Brandt war dabei nicht die einzige V-Person, die den THS mutmaßlich mit Geldern des Verfassungsschutzes im Aufbau unterstützte.

Hat der Verfassungsschutz den Aufbau des THS gezielt gefördert, um einfacheren Zugang und Einblick in die rechtsradikale Szene zu erhalten? Wurde auf polizeiliche Ermittlungsverfahren Einfluss genommen? Und wie konnte aus dem gut beobachteten THS der NSU entstehen ohne, dass der Verfassungsschutz, nach eigener Angabe, Kenntnis über Aufenthaltsorte der Terrorist*innen hatte? Diese und weitere Fragen konnten bis heute nicht geklärt werden, weil die Bundesanwaltschaft und der Geheimdienst immer wieder Informationen im Prozess zurück hielten, die ihre V-Männer hätten belasten können.

Dabei nimmt das Unterstützer*innen-Netzwerk von V-Personen immer wieder wichtige Rollen in der Vorbereitung der Mordanschläge und der Finanzierung des Untergrundlebens ein. Tino Brandt organisierte Spendensammlungen auf Konzerten. Thomas Starke, Verbindungsperson des LKA Sachsen, unterstütze den NSU bei der Suche nach einem Unterschlupf in Chemnitz und besorgte Uwe Böhnhardt das TNT, das später für die Bombenattrappen verwendet wurde. Jule W. half Beate Zschäpe im Untergrund und war mehrmals in der Zwickauer Wohnung. Tino S. wurde nur wenige Tage vor dem Mord des Dortmunder Kioskbesitzer Mehmet Kubaşık mit Uwe Mundlos in der Nähe des späteren Tatorts gesichtet.

Die fragwürdige Rolle des Verfassungsschutzes im NSU-Komplex beschränkt sich jedoch nicht auf die V-Personen in der Szene. Die Rolle des Verfassungsschützers und V-Führers Andreas Temme beim Mord an Halit Yozgat in einem Kasseler Internetcafé konnte im NSU-Prozess trotz widersprüchlicher Aussagen nicht vollständig aufgeklärt werden. Am 06. April 2006 stürmen die Täter in das Internetcafé und erschießen den 21-Jährigen. Während des Mordes befindet sich der Beamte Andreas Temme im Hinterraum des Cafés, in dem er regelmäßig Gast ist, und will nichts vom Mord bemerkt haben. „Sehr, sehr unglaubwürdig“, wie ein Beamter im Ermittlungsverfahren gegen Temme feststellt und später durch ein forensisches Gutachten bestätigt wurde.Die Reihe von Lügen und Schutzbehauptungen erschienen den Richter*innen im Prozess als glaubwürdig.

Auch wenn die Anwesenheit des Agenten im Internetcafé nur Zufall gewesen sein sollte, bleibt vom Kasseler Mordfall eine lange Liste von Behinderungen des Ermittlungsverfahrens durch den Verfassungsschutz und ein politischer Skandal um einen Ministerpräsidenten, der die Vernehmung von weiteren Quellen des Verfassungsschützers verhinderte.

Aufklärung

Bei der Gedenkfeier für die Ermordeten am 23. Februar 2012 versprach Bundeskanzlerin Angela Merkel die lückenlose Aufklärung. Zehn Jahre später sind die Lücken aber noch lange nicht geschlossen. Ein erster Schritt muss die sofortige Freigabe der NSU-Akten sein, die für mehrere Jahrzehnte unter Verschluss gehalten werden sollen. Um die rechten Netzwerke, Unterstützer*innen und die Rolle der Ermittlungsbehörden umfänglich aufzudecken, muss der Inhalt der Akten zugänglich sein. Außerdem dürfen die  Akten nicht geschwärzt sein und es muss aufgeklärt werden, warum 2012 vom Verfassungsschutz Akten zum NSU vernichtet wurden. Eine Rekonstruktion der Akten bzw. des Inhalts muss so gut wie möglich stattfinden. Dazu gehört auch, dass vom Verfassungsschutz eingesetzte V-Männer aussagen und die Behörde die Aufklärung nicht mehr aktiv verhindern darf. Des Weiteren muss die Frage geklärt werden, wie es sein kann, dass im Umfeld des Kerntrios mehrere V-Männer vom Verfassungsschutz positioniert wurden und trotzdem keine Morde verhindert wurden und das Kerntrio erst durch die Selbstenttarnung aufflog. Dabei stellt sich auch die Frage was der Verfassungsschutz wusste und damit auch die Frage danach, ob und wenn ja was diese Behörde vertuschen will.

Eine weitere Frage, die es unbedingt zu klären gilt, ist die wie und warum die Tatorte und die Opfer ausgewählt wurde. Im Prozess sagte Zschäpe aus, dass sie immer erst im Nachhinein von den Taten erfahren habe, was aus verschiedenen Gründen allerdings unglaubwürdig ist. Für die Angehörigen der Opfer stellt die Beantwortung dieser Frage eine zentrale Rolle in der Aufklärung. Das Kerntrio lebte in Chemnitz und später in Zwickau. Die Tatorte waren in Nürnberg, Rostock, Kassel, Dortmund, München, Hamburg, Köln und Heilbronn. Außerdem waren die Tatorte nicht an öffentlichen Plätzen, sondern gezielt in Geschäften von Menschen mit türkischer oder griechischer Migrationsgeschichte. Bei genauerer Betrachtung der Fälle wird deutlich, dass die Taten mittels einer genaueren Auskundschaftung der Tatorte und der Tagesabläufe der Opfer möglich waren. Es gibt kaum bis keine Hinweise darauf, dass das Kerntrio sich vor den Taten länger in den Städten aufgehalten hat. Demzufolge muss es Unterstützer*innen geben, die für das Kerntrio die Tatorte und Opfer beobachtet haben und Informationen geliefert haben. Diese Unterstützer*innen gilt es zu finden und ihre Rolle juristisch aufzuarbeiten. Dabei muss auch die Trio-These kritisch betrachtet werden. Bereits in den 1990er Jahren war das Kerntrio gut in der Neonazi-Szene vernetzt. Den Angeklagten im NSU-Prozess konnte Unterstützung bei der Beschaffung von Dokumenten, Wohnungen, Geld und Waffen nachgewiesen werden, die Unterstützung durch weitere Neonazis ist allerdings nicht vollständig aufgeklärt.

Laut dem NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag beläuft sich die Zahl der Helfer*innen und Helfershelfer*innen auf 129, wobei dies eine vorläufige Zahl ist. Dass hier weitere Ermittlungen, welche teilweise von der Staatsanwaltschaft auch schon aufgenommen wurden, notwendig sind, ist offensichtlich. Die Fortführung rechter Gewalt in Deutschland wie zuletzt in Chemnitz, Hanau, Halle und Kassel zeigt, dass rechte Netzwerke gefährlich sind und aufgedeckt werden müssen. Verbindungen zum NSU-Netzwerk sind hierbei nicht unwahrscheinlich, weshalb die lückenlose Aufklärung auch Prävention weiterer rechter Gewalt ist. So gibt es auch mögliche Verbindungen zwischen dem Mord an Halit Yozgat in Kassel am 6. April 2006 und dem Mord an Walter Lübcke 2018, ebenfalls in Kassel.

Zum Schluss stellt sich noch die Frage nach dem eklatanten und flächendeckenden Ermittlungsversagen sämtlicher Behörden. Der Beginn lag schon darin, dass 1998 bei der Durchsuchung der Garage des Kerntrios in Jena Böhnhardt von der Polizei gehen gelassen wurde und die nun gewarnten Neonazis untertauchen konnten. Die Ermittlungen der Mordfälle waren von starken institutionellen Rassismus geprägt. So wurde beispielsweise die rassistische Motivation hinter den Morden von der Polizei ausgeschlossen, obwohl Angehörige darauf hinwiesen. Stattdessen wurde von angeblichen Mafiageschäften und Drogenhandel geredet. Allein das Wording “SOKO Halbmond” oder “Dönermorde” zeigt, wie in deutschen Institutionen und Medien Rassismus reproduziert wurde und wird. Auch die Frage danach was der Verfassungsschutz wusste, ist offen. Aus der Aufklärung über die Fehler bei den Ermittlungen müssen Konsequenzen folgen.

Das Versprechen der lückenlosen Aufklärung muss endlich eingelöst werden. Darum ist es dringend notwendig weitere Ermittlungen zu führen und die Akten freizugeben. Auch die Frage, ob es weitere Taten des NSU gab, muss geklärt werden. Wir werden keinen Schlussstrich ziehen. Wir fordern Aufklärung und Konsequenzen!

Gedenken und Erinnerung

Wichtig ist es auch den Opfern und Betroffenen zu gedenken und die Erinnerung an sie aufrecht zu erhalten. Dabei stehen wir bedingungslos solidarisch an der Seite der Angehörigen. In den Städten, in denen die Morde begangen wurden, und in Jena gibt es schon regelmäßig Gedenkveranstaltungen für die Ermordeten. Auch einige Straßen wurden nach ihnen benannt. Diese meist lokalen Initiativen unterstützen wir. Es reicht jedoch nicht aus die Aufgabe des Gedenkens und der Erinnerung an einzelne Gruppen oder Einzelpersonen abzuwälzen. Es braucht eine eigene Erinnerungskultur für die Opfer rechter Gewalt, wozu auch eine Erinnerungskultur für die Opfer des NSU gehört. Diese Erinnerungskultur muss von Staat und Zivilgesellschaft unterstützt und gestaltet werden. Am wichtigsten ist dabei die Solidarität mit den Angehörigen und die Erinnerung an die Opfer. Jede weitere Forderung nach der Umbenennung von Straßen, Gedenkveranstaltungen und weiteren gedenk- und erinnerungskulturellen Anliegen sind darum zu unterstützen. Für das was geschah gibt es kein Vergeben und kein Vergessen.

Prozess

Der Prozess gegen Beate Zschäpe und André Eminger, Holger Gerlach, Ralf Wohlleben und Carsten Sch. begann am 6. Mai 2013 vor dem Oberlandesgericht (OLG) in München und endete nach fünf Verhandlungsjahren mit dem Urteil 2018. Das OLG verurteilte Beate Zschäpe als Mittäterin unter anderem wegen Mordes in zehn Fällen, versuchten Mordes in 23 Fällen und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu lebenslanger Freiheitsstrafe und stellte die besondere schwere der Schuld fest. Doch dieser war durch die eingelegte Revision 2018 noch nicht rechtskräftig und auch wenn mit einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes nächstes Jahr gerechnet werden kann, wird relativ schnell klar, dass dies kein Schlussstrich sein darf.

Denn gleichzeitig werden Stimmen lauter, die auf fehlerhafte Herangehensweisen aus einer antifaschistischen und betroffenen Perspektive sichtbarer machen. Berechtigterweise steht der Einwand im Raum, dass der Fokus allein auf das Trio und ihr nächstes Umfeld den Netzwerkcharakter des Nationalsozialistischen Untergrundes nicht anerkennt. Dabei hat das Gericht die Chance verpasst, aufzuzeigen, dass der NSU ganz eng mit den militanten Nazi-Strukturen wie Blood and Honour, Kameradschaften und dem Thüringer Heimatschutz verbunden war. Die Aufklärung wurde sogar gezielt unterbunden, indem der Nebenklage nicht die komplette Akteneinsicht gewährt wurde und bei der Beweisaufnahme die ans Licht gebrachten Informationen zu den Verbindungen zu Blood and Honour aus dem Urteil herausgehalten wurden. Zudem wurde ebenfalls die Rolle der Nachrichtendienste und der Polizei im Urteil nicht beleuchtet. Ebenfalls wurde im Urteil rassistische Narrative aufgegriffen und all die Mordopfer des NSU werden in keinem Satz als individuelle Menschen aufgeführt, sondern vielmehr nur mit rassistischen stereotypen beschrieben. Weitere juristische Fehler versuchen die Anwält*innen der Nebenklage seit Jahren sichtbar zu machen, doch mit dem Urteil 2018 nahm das Gericht die Erfüllung ihrer Aufgabe an. Doch dabei sind immer die Ziele eines Strafverfahrens im Hinterkopf zu behalten. Der Sinn und Zweck des Strafverfahrens, dessen wesentlichen Punkte die Wahrheitsfindung, Rechtsstaatlichkeit und Rechtsfrieden sind, wurde im NSU-Prozess vor allem durch die Nebenklage forciert und dies – trotz – instabilen Rechtsposition der Nebenklage in einem Strafverfahren. Viele Punkte in dem Prozess haben nur durch den Nachdruck der Nebenklage an Bedeutung gewonnen. Deshalb muss es prozessual bedeuten, dass das Urteil niemals ein Schlussstrich sein kann und die Aufklärung auch über das Urteil hinaus weitergehen muss. Dabei ist von großer Bedeutung, dass sämtliche Akten zugänglich sein müssen! 

Forderungen

  • Wir fordern die Zerschlagung des NSU-Komplex! Um weitere Ermittlungsverfahren gegen Teile des Komplexes zu ermöglichen, fordern wir die Freigabe, der vom VS zurückgehalten Akten, der Gerichtsakten des OLG München, der Ermittlungsakten der Bundesanwaltschaft und die weitere Untersuchung in den 13 Untersuchungsausschüssen der Landtage und des Bundestages.
  • Die Ermittlungsverfahren und der Prozess fußten viel zu lange auf rassistischen Stereotypen. Der Rassismus in den Ermittlungsbehörde hat das Täter*innennetzwerk geschützt. Wir fordern eine schonungslose Aufarbeitung in den Institutionen und ein Ende des Staatsrassismus.
  • Das Urteil ist kein Schlussstrich! Wir wollen ein würdiges und öffentliches Gedenken an die Opfer der NSU-Morde und gesellschaftliche Solidarität mit den Angehörigen und von Rassismus Betroffenen. Die Stärkung der Erinnerungskultur ist dabei zivilgesellschaftliche und staatliche Aufgabe zugleich.
  • Verfassungsschutz abschaffen! Nicht nur, dass der VS mit der zweifelhaften V-Personen-Praxis Neonazis und ihre Strukturen finanziell gestützt hat, der NSU hat auch deutlich gemacht, dass auch ein großes Netzwerk an Informant*innen schwere Straftaten nicht verhindern kann. Der Verfassungsschutz hat in Gänze versagt und die Verurteilung von Täter*innen durch seine Politik erschwert bis verhindert. Dieser Geheimdienst darf in dieser Form nicht fortbestehen.

G3 Recht auf eine offene Zukunft: Medizinische Selbstbestimmung einsichts- und urteilsfähiger Minderjähriger sichern!

2.09.2021

Die Landeskonferenz der NRW Jusos möge beschließen:

Bei der Selbstbestimmungsfähigkeit Minderjähriger im Rahmen medizinischer Eingriffe handelt es sich um eine schwierige rechtliche Frage – sowohl in verfassungs- als auch in familien- und allgemein zivilrechtlicher Hinsicht. Aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht folgendes Selbstbestimmungsrecht der Minderjährigen im höchstpersönlichen Bereich, das mit dem Elternrecht verbundene Fremdbestimmungsrecht und arztrechtliche Haftungsfragen treffen aufeinander.

Zusätzlich verkompliziert sich die rechtliche Gemengelage, wenn es um eine spezielle Form des medizinischen Eingriffs geht: um Schwangerschaftsabbrüche an Minderjährigen. Hier tritt zu den beschriebenen Aspekten noch der des Schutzes des ungeborenen Lebens hinzu, welcher derzeit durch die §§ 218 ff. StGB verwirklicht wird. Angesichts des in anderen Altersgruppen so nicht anzutreffenden leichten Überwiegens der Abtreibungen gegenüber den Lebendgeburten (im Jahr 2018 2746 : 2445, vgl. DeStatis, Lebendgeburten nach dem Alter der Mutter und DeStatis, Schwangerschaftsabbrüche nach dem Alter der Frauen) ist dies auch von besonderer praktischer Relevanz. Erwähnt wird dieses Beispiel an dieser Stelle aus zwei Gründen: Erstens hat vor nicht allzu langer Zeit das OLG Hamm (Beschluss v. 29.11.2019 – 12 UF 236/19, u.a. in MedR 2020, 679) eine beeindruckende Abkehr von der eigenen (und herrschenden) Rechtsprechungslinie genommen und zweitens zeigt sich hier besonders eindrücklich, wieso eine Regelung der Entscheidungszuständigkeit so wichtig ist (dazu im Folgenden mehr).

Wie bereits angedeutet, handelt es sich bei Entscheidungen für oder gegen medizinische Behandlungen – freilich abgestuft nach Intensität und Dringlichkeit des Eingriffs – um höchstpersönliche. Sie können immense Auswirkungen auf das spätere Leben des:der Patient:in haben. Umso erstaunlicher ist, dass die Zuständigkeit für solche Entscheidungen im Gesetz nicht explizit festgelegt ist, entsprechend sowohl Gerichte als auch Ärzt:innen nicht nur zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, sondern sogar verschiedene Maßstäbe anlegen: Hier wird teilweise angenommen, dass Eltern immer zuständig seien, solange ihr Kind minderjährig ist und das Gesetz keine sog. Teilmündigkeit vorsieht. Andere gehen davon aus, dass dem Kind (bloß) ein Mitentscheidungs-, im Sinne eines Veto-Rechts zustünde, wieder andere räumen ihm ein Selbstbestimmungsrecht ein. Innerhalb der letzten beiden Ansichten wird dann häufig nochmal je nach Alter und/oder Fähigkeiten des Kindes sowie nach Art und Schwere des Eingriffs differenziert.

Dies erscheint nicht nur unübersichtlich und wenig vorhersehbar, sondern auch mit den Grundrechten des Kindes – und damit mit Verfassungsrecht – unvereinbar:

Die elterliche Sorge gem. § 1626 Abs. 1 BGB konkretisiert das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 GG und erklärt ohne Differenzierung bis zur Volljährigkeit gem. § 2 BGB die Eltern für entscheidungszuständig. Abseits gesetzlich geregelter Eigenzuständigkeiten des Kindes werden „übergesetzliche“ Eigenzuständigkeiten im Einzelfall diskutiert; hierzu gehören auch die Bestimmung über medizinische Behandlungen und als Unterfall der Schwangerschaftsabbruch. Dies liegt darin begründet, dass die Grundrechte im Verhältnis von Privaten untereinander – im Gegensatz zum Verhältnis zum Staat – zwar lediglich mittelbare (Dritt-) Wirkung entfalten, jedoch aufgrund der Besonderheit des Elternrechts besonders zu berücksichtigen sind: Schließlich stellte schon das BVerfG fest, dass eine menschenwürdezentrierte Verfassung nur pflichtgebundene Rechte an einer anderen Person einräumen könne, und das Elternrecht seine Rechtfertigung in dem Entwicklungsdefizit des Kindes, welches wiederum selbst Grundrechtsträger sei, finde (BVerfGE 24, 119 [Adoption I]); später führte es aus, dass das Elternrecht lediglich eine treuhänderische Freiheit sei, die zurücktrete, wenn das Kind eine genügende Reife erlangt hat (BVerfGE 59, 360 [Schülerberater]). Die schleichende Abnahme des Funktionsumfangs wird auch durch § 1626 Abs. 2 BGB betont, aber schon § 1626 Abs. 1 als einfachgesetzliche Konkretisierung kann den Eltern nur Rechte in Bezug auf das Kind übertragen, sofern und soweit diese auch von der Verfassung gestützt werden.

Die Vertreter:innen der „Eltern-sind-allzuständig-Ansicht“ übertragen die für Willenserklärungen (z.B.: Angebot des Verkaufs der eigenen Schulbücher) anwendbaren Regelungen auf medizinische Eingriffe. Dies widerspricht jedoch schon der Intention des Gesetzgebers, der in § 630d BGB die Notwendigkeit der Einwilligung des:der Patient:in in den medizinischen Eingriff unabhängig von dem Abschluss eines Behandlungsvertrags (!) geregelt hat. Und nicht nur das – diese Sichtweise verkennt völlig die Grundrechtsinhaberschaft auch des minderjährigen Kindes!

Ähnliches gilt für die Vertreter:innen bloßer Veto-Theorien und Verfechter:innen bestimmter Altersgrenzen: Ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet Minderjährigkeit bloß altersspezifische Schutzbedürftigkeit; liegt diese nicht mehr vor, da das Kind fähig zur Selbstbestimmung geworden ist, schlägt die gesetzliche Vertretung durch die Eltern in eine Zwangsordnung um und büßt ihre Legitimation ein (Schwerdtner, NJW 1999, 1525, 1526). Wann das Kind fähig zur Selbstbestimmung ist, lässt sich entwicklungspsychologisch nur im Einzelfall bestimmen. Zudem ist ein relevanter Unterschied zu Erwachsenen, die sich ebenfalls in einer Lage befinden können, die ihre Selbstbestimmungsfähigkeit ausschließt (etwa Krankheit, Drogenkonsum), nicht ersichtlich –hier wird der Einzelfall individuell betrachtet. Dementsprechend legt auch der BGH in seiner ständigen Rechtsprechung die individuelle Einsichts- und Urteilsfähigkeit als Maßstab an. Im Übrigen ist auch die verkomplizierte Gemengelage bei Schwangerschaftsabbrüchen keine minderjährigenspezifische Problematik – dementsprechend sind hier die für die Einwilligungsfähigkeit im Allgemeinen anzulegenden Maßstäbe anzuwenden.

Daher ist eine starre Altersgrenze abzulehnen. Die Festlegung von Regelvermutungen erscheint demgegenüber möglich, wenn auch angesichts zu befürchtender Ankereffekte und der Gefahr eines unrichtigen Verständnisses bei den Entscheidungsträger:innen unterlegen gegenüber einer offenen, bloß an die Einwilligungs- und Urteilfähigkeit anknüpfenden Formulierung.

Das Persönlichkeitsrecht Minderjähriger wird also derzeit – trotz gesellschaftlichen und rechtlichen Wandels (s. nur Züchtigungsverbot des § 1631 BGB seit 2000 und Berücksichtigungspflicht nach § 1626 Abs. 2 BGB) – nicht hinreichend berücksichtigt. Es fehlt eine Regelung etwa nach Schweizer Vorbild. So heißt es in Art. 19c Schweiz. ZGB: „„Urteilsfähige handlungsunfähige Personen üben die Rechte, die ihnen um ihrer Persönlichkeit willen zustehen, selbstständig aus; vorbehalten bleiben Fälle, in welchen das Gesetz die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters vorsieht. Für urteilsunfähige Personen handelt der gesetzliche Vertreter, sofern nicht ein Recht so eng mit der Persönlichkeit verbunden ist, dass jede Vertretung ausgeschlossen ist.““

Die richtigerweise zu praktizierende verfassungskonforme Auslegung des § 1626 Abs. 1 BGB inklusive Annahme einer übergesetzlichen Ausnahme bei medizinischen Eingriffen ist bietet nicht nur keinerlei Rechtssicherheit für die Betroffenen, sondern ist auch sehr umständlich: Der eigentlich einheitliche Vorgang der Behandlung (entsprechend der Gesetzeskonzeption) künstlich in einen zustimmungsfreien und einen zustimmungspflichtigen Teil aufspaltet. Die Einwilligung in die sonst vorliegende Körperverletzung Behandlung kann dann zwar der:die Minderjährige selbst erteilten, für den Absluss des Behandlungsvertrags braucht er:sie aber seine:ihre Eltern. Dementsprechend ist eine einheitliche Regelung medizinischer Behandlungen, die beide Aspekte zur Parallelität führt, anzustreben.

Daher fordern wir, den Schutz des medizinischen Selbstbestimmungsrechts Minderjähriger durch geeignete, ihre Grundrechte hinreichend berücksichtigender Rechtsnormen im Sinne der Anerkennung ihres Rechts auf eine offene Zukunft.

Wir fordern die Erarbeitung einer Rechtsnorm, die für medizinische Eingriffe an Minderjährigen explizit die Entscheidungszuständigkeit festlegt. Hierbei sollte angesichts der zu berücksichtigenden Grundrechte des Kindes die individuelle Einsichts- und Urteilfähigkeit als Ausgangspunkt der Zuständigkeit für die zu erteilende Einwilligung genommen werden. Die Regelung einer entsprechenden Teilmündigkeit für den Abschluss des Behandlungsvertrags ist anzustreben.

Zudem fordern wir den Schutz nicht selbstbestimmungsfähiger Minderjähriger insbesondere vor aufschiebbaren, aber irreversiblen und ggf. schwerwiegenden medizinischen Entscheidungen ihrer Eltern.

Zur Illustration: Am 21.5.2021 wurde das Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung verkündet. Dieses beinhaltet das Verbot geschlechtsverändernder operativer Eingriffe an Kindern durch Einschränkung der Personensorge der Eltern, eine Ausnahme für solche Eingriffe, die das Familiengericht zur Abwendung einer Lebensgefahr oder erheblichen Gesundheitsgefahr genehmigt hat und eine Ausnahme für solche Eingriffe ohne Bezug zu einer Lebens- oder Gesundheitsgefahr, die ein mindestens 14jähriges Kind begehrt, wenn weitere Voraussetzungen eingehalten sind (u. a. Zustimmung der Eltern und Genehmigung des Familiengerichts).

Am 12.6.2020 wurde das Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen verkündet. Zwar handelt es sich bei diesen sog. „Behandlungen“ nicht um solche, sondern einfach nur um Maßnahmen, die auf die „Heilung“ von Homosexualität zielen und damit menschenrechtsfeindliche Umerziehungsversuche darstellen. Das Gesetz zeigt jedoch, ebenso wie das zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung ein wichtiges Problem auf:

Eltern sind insbesondere durch den Persönlichkeitskern betreffende, medizinische Entscheidungen in der Lage, das Leben ihres Kindes nachhaltig zu beeinflussen – sowohl durch Tun als auch durch Unterlassen. Hier reichen die derzeitigen Instrumente (insb. Untersuchung auf eine mögliche Kindeswohlverletzung durch Jugendamt und Familiengericht) nicht aus, da sie häufig erst ergriffen werden, wenn das Kind sprichwörtlich in den Brunnen gefallen ist.

Daher fordern wir zumindest eine allgemeine gerichtliche Genehmigungspflichtigkeit, wenn nicht sogar eine Pflicht zur Aufschiebung der Entscheidung bis zur Selbstbestimmungsfähigkeit für Eingriffe, die aufschiebbar sind und eine gewisse Schwere haben, insbesondere irreversibel sind.

G2 [zurückgezogen] Mental Health Matters

2.09.2021

Innerhalb eines Jahres erkrankt jeder dritte Mensch an einer psychischen Erkrankung. Aber laut dem Ärzteblatt werden nur 42% von ihnen versorgt. Die Versorgungslücke ist sogar bei schweren Erkrankungen alarmierend. So werden beispielsweise nur etwa 25% aller Menschen, die an einer Alkoholsucht leiden behandelt. 

Während der Corona-Pandemie häuften sich die Fälle von Depressionen und Angststörungen. Bereits vor der Pandemie mussten Menschen Monate oder sogar Jahre auf einen Therapieplatz warten, jetzt spitzt sich die Lage zu. Doch es scheint keine Besserung in Sicht zu sein. Deshalb fordern wir Jusos eine umfassende Reform der Versorgung von psychischen Erkrankungen und unterstützen die Forderungen von zahlreichen Verbänden, die seit Jahren in diesem Bereich laut sind. 

Laut eines Gutachtens des G-BAs (Gemeinsamer Bundesausschuss) fehlten 2017 allein in NRW 2.400 Kassensitze für Psychotherapeut*innen. Es wurden aber nur 776 Kassensitze genehmigt. Das bedeutet, dass bereits vor der Pandemie 1.700 Kassensitze in NRW fehlten. Eine Unterversorgung, die durch die Auswirkungen der Pandemie katastrophale Auswirkungen genommen hat. 

Deshalb fordern wir die sofortige Erhöhung der Kassensitze. Das bedeutet, dass wir 1.700 neue Kassensitze allein in NRW fordern. Dabei darf es nicht mehr passieren, dass die Versorgung in einer Stadt besonders einseitig ist. Denn aktuell erleben Menschen mit Traumafolgestörungen oder Suchterkrankungen, dass sie auf Grund ihrer Diagnose von Therapeut*innen nicht behandelt werden. 

Bei der Besetzung der Kassensitze müssen Spezialisierungen berücksichtigt werden, damit eine Bedarfsgerechte Behandlung für ALLE psychischen Erkrankungen in der eigenen Stadt oder im eigenen Kreis möglich ist.

Außerdem dauert die Genehmigung einer Therapie häufig sehr lange, in dieser Zeit verschlechtert sich oft der mentale Zustand der Patient*Innen oder Therapien können nicht regelmäßig stattfinden. Daher fordern wir eine Bearbeitungsfrist von Anträgen für die Krankenkassen.

Zudem ist es privatversicherten Kindern und Jugendlichen, die eine Therapie wahrnehmen möchte, nicht möglich dies anonym zu tun. Ihnen ist es oftmals unangenehm das Thema zuhause anzusprechen und der Weg zur Hilfe wird dadurch unnötig erschwert. Aufgrund dessen fordern wir die Anonymisierung der Therapie für privatversicherte Kinder und Jugendliche.

G1 Für eine lebensrettende Infrastruktur in Deutschland

2.09.2021

Welche Sofortmaßnahmen helfen bei Verbrennungen? Wie überprüfe ich die Vitalfunktionen, wie Bewusstsein, Atmung, Kreislauf? Was ist ein AED? Wie nehme ich überhaupt Kontakt zum Rettungsdienst auf? Hierbei handelt es sich um Fragen, die in einem Erste-Hilfe-Kurs besprochen werden und wo man konkrete Hinweise an die Hand bekommen würde. In Deutschland ist ein verpflichtender Erste-Hilfe-Kurs nach wie vor an den Erwerb des Führerscheins gekoppelt. Hierbei handelt es sich jedoch um ein veraltetes Modell. Nicht jede*r macht noch einen Führerschein und auch ist fraglich, warum der Erste-Hilfe-Kurs, wenn man ihn schon an den Führerschein koppelt, nicht in regelmäßigen Zeitabständen aufgefrischt werden muss. Die Bilanz zeigt, dass jede achte Person in Deutschland noch nie einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert hat und bei den anderen liegt er meist viele Jahre zurück. Auch haben wenige Menschen Kenntnis über Erste-Hilfe-Apps oder öffentliche Hilfsmittel wie einen Defibrillator. Es ist daher nicht verwunderlich, dass viele aus Angst und Unwissenheit etwas falsch zu machen in notwendigen Situationen nicht handeln. Doch feststeht: Das Einzige, was man falsch machen kann, ist nichts zu tun. Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung könnten in Deutschland durch sofortige Hilfen von Laien jährlich bis zu 10.000 Menschenleben mehr gerettet werden.

Sensibilisierung der Gesellschaft

Bloß jede*r fünfte Deutsche traut sich die Ausübung von lebensrettenden Maßnahmen (Stoppen von starken Blutungen, bei Atemstillstand beatmen, Herzdruckmassage, etc.) zu. Die Reanimationsquote liegt hierzulande nur bei 40 Prozent, während der europäische Durchschnitt bei 52 Prozent liegt und in den skandinavischen Ländern sind es sogar 60 bis 80 Prozent. Expert*innen halten die Differenz für so groß, weil dort ein besseres Problembewusstsein herrsche und auch bereits in Schulen das Thema Erste-Hilfe behandelt wird. Überall kann etwas passieren: beim Sport, in der Kneipe, beim Reisen, im Haushalt, auf der Arbeit oder im Verkehr. Durch das Gesetz sind wir verpflichtet zu helfen, sonst drohen Strafen, aber haben wir verlernt Hilfe zu leisten?

2016 war der Fall einer Bankfiliale in Essen in vielen Medien zu sehen und hat eine Diskussion rund um das Thema Erste-Hilfe ausgelöst. Ein sterbender Mann war im Vorraum der Bank von weiteren Kund*innen ignoriert worden. Keine*r wollte helfen. Der Mann starb eine Woche später an den Folgen seines Zusammenbruchs und die Augenzeug*innen mussten eine Geldstrafe zahlen. Alle gaben an, dass sie dachten, es handele sich um einen schlafenden Obdachlosen. Doch obdachlos oder nicht, warum sind viele in der Gesellschaft nicht bereit zu helfen oder trauen sich noch nicht mal auf dem Boden liegende Menschen zu fragen, ob alles in Ordnung ist. Auch zahlreiche Autounfälle werden von Menschen in vorbeifahrenden Autos zwar gerne bestaunt, geholfen oder zumindest der Notruf gewählt, wird nur selten. „Das macht schon wer anders.“

In vielen Fällen kommen Menschen erst auf die Idee ihre Erste-Hilfe-Kenntnisse aufzufrischen, wenn sie selbst in eine unvorhergesehene Situation gekommen sind oder selbst Hilfe in Anspruch nehmen mussten. So gab es laut des Deutschen Roten Kreuzes eine hohe Nachfrage an Erste-Hilfe-Kursen nach der „Loveparade-Katastrophe“ in Duisburg. Doch warum gehört es in unserer Gesellschaft nicht völlig selbstverständlich dazu, dass beispielsweise alle fünf Jahre ein Erste-Hilfe-Kurs besucht wird.

Außerdem sollte es in den Schulen selbstverständlich zu den Lehrinhalten gehören. Etwa im Rahmen einer Projektwoche o.Ä. Denn je früher Menschen selbstverständlich mit dem Begriff Helfen konfrontiert werden, desto größer ist auch die Bereitschaft im Ernstfall wirklich Hilfe zu leisten. Auch wird das Gelernte zu Hause den Eltern oder Geschwistern gezeigt, wodurch das Thema insgesamt an Präsenz in deutschen Haushalten gewinnt. Außerdem besteht auch ein Eigeninteresse der Schulen an einem ganzheitlichen Erste-Hilfe-Konzept für Schulen, denn im Zuge des Ganztags spielt sich auch immer mehr Leben am Lernort Schule ab. Die Anzahl an Schulunfällen ist in den letzten Jahren immer weiter gestiegen, während jedoch bei Betrieben eine Ersthelfer*innen-Quote gesetzlich festgelegt ist und andere Auflagen für den Notfall erfüllt werden müssen, gibt es für Schulen keine einheitlichen Regelungen. Es reicht also nicht, wenn nur Sportlehrer*innen über ein Zertifikat verfügen.
Auch kommt der Rettungsdienst in Deutschland oft an seine Grenzen. Die Einsatzzahlen nehmen, bei gleichzeitig steigendem Personalmangel, zu. Das System Notfallversorgung krankt an vielen Stellen und in vielen Orten. Es wird daher immer wichtiger, dass wir als Laien in der Lage sind Wartezeiten zu überbrücken und uns gegenseitig zu helfen. Zehn Minuten können wertvolle Zeit für einen verletzten Menschen sein. Durch die stetige Übung in Kursen werden gewisse Abläufe, Techniken oder Handgriffe erlernt und die Teilnehmer*innen werden sich so auch ruhiger und überlegter in Extremsituationen verhalten können. Dabei geht es zu keinem Zeitpunkt etwa darum die Arbeit der Sanitäter*innen oder eine*r Notärzt*in zu übernehmen. Aber es fängt bereits beim richtigen Sichern einer Unfallstelle an. Durch Rollenspiele kann das Telefongespräch mit der Notzentrale erprobt werden. Was für Informationen sind relevant und gebe ich weiter? Welche Körpersignale deuten auf welches Krankheitsbild hin. Es geht darum, Menschen zu ermutigen im Ernstfall zu*r Lebensretter*in zu werden und Ängste und Hemmschwellen abzubauen.

Digitalisierung auch in der Ersten Hilfe!

Viele Orte verfügen bereits über die sogenannten Automatisierten Externen Defibrillatoren (AEDs). Es handelt sich dabei um ein hoch technisch entwickeltes Gerät, das den Herzrhythmus selbstständig analysiert und entscheidet, ob ein Impuls notwendig ist. Nur wenn erforderlich, wird diese Funktion des Gerätes freigegeben und die Anwender*innen mittels Sprachanweisung aufgefordert, den Impuls per Knopfdruck auszulösen. Eine wichtige Errungenschaft in der Ersten-Hilfe, denn der plötzliche Herztod, ausgelöst durch Kammerflimmern, ist außerhalb von Krankenhäusern die häufigste Todesursache. Meist ohne vorherige Anzeigen versterben jährlich über 100.000 Menschen am plötzlichen Herzstillstand. Die Erste-Hilfe in den ersten Minuten, vor allem mit Hilfe des Laien-Defibrillators, hat eine enorme Relevanz, denn das Gehirn beginnt bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand bereits nach nur drei bis fünf Minuten ohne Blutfluss unwiederbringlich zu sterben. Das Warten von bis zu 15 Minuten auf den Krankenwagen muss überbrückt werden.  Der Schockgeber kann hier die übliche Reanimation unterstützen. Durch ein leicht verständliches Display und akustische Aussagen werden Anweisungen zur Reanimierung gegeben. Das Gerät ist extra für Laien konzipiert! Dennoch trauen sich laut Umfragen nur 50% die Verwendung zu. Hier muss, wie bereits angesprochen, die Teilnahmefrequenz an den Erste-Hilfe-Kursen steigen und auch ist es besonders wichtig, dass die AEDs verpflichtend an möglichst vielen Orten (vor allem an Risikoorten wie Fitnessstudios, Bahnhöfen, etc.) zur Verfügung stehen. Auch ist vielen nicht bewusst, dass sie ihr Smartphone mit Erste-Hilfe-Apps ausstatten und so in Notfallsituationen benutzen können.  Diese sind von den bekannten Rettungsdiensten entwickelt worden, und erklären mit Hilfe von Bildern und sprachlichen Anweisungen, welche Handlungen Schritt für Schritt nötig sind. Bei vielen Anwendungen ist auch ein Notruf-Assistent integriert oder spezielle Notrufnummern wie die Giftnotrufzentrale o.Ä.

Längst haben, bis auf einige Ausnahmesituationen, die Smartphones die Notrufsäulen abgelöst. Jedoch nicht, wenn man sich die speziell entwickelte Notrufsäule vom US-Konzern Google anschaut. Diese hat die Möglichkeit eine Drohne zur medizinischen Versorgung anzufordern. So haben Menschen die Möglichkeit diese Drohne mit Defibrillatoren, Pulsoximetern, Inhalatoren und Medikamente wie Adrenalin oder Insulin zu erhalten. Die Drohne soll direkt zum Unfallort fliegen und medizinische Unterstützung liefern, bevor Rettungssanitäter*innen vor Ort sind. Auch soll über die Notrufsäule der direkte Austausch mit eine*r Rettungsassitent*in möglich sein. So wird lebenswichtige Zeit gewonnen wie in Fällen eines anaphylaktischen Schocks.

Zusammenfassung

Wie der Antrag gezeigt hat, kann jede*r den Ausgang eines Notfalls beeinflussen und zum Überleben des Opfers beitragen. Dabei gibt es vielfältige Möglichkeiten bei der Ersten-Hilfe und auch neue Technologien können uns dabei unterstützen.

Deshalb fordern wir:

  • Die fachlich fundierte Thematisierung von Erste-Hilfe an KiTa’s und Schulen.
  • Öffentliche Kampagnen zur Sensibilisierung der Gesellschaft zu helfen und die Relevanz von Erste-Hilfe Kenntnissen ins Bewusstsein der Bevölkerung rücken.[1]
  • Zum Erhalt des Führerscheins muss der Erste-Hilfe-Kurs alle fünf Jahre wiederholt werden.
  • Flächendeckender Zugang zu Automatischen Externen Defibrillatoren (AED). Besonders an öffentlichen Orten mit großer Menschenansammlung (Bahnhöfen, Flughäfen, etc.) oder an Orten mit besonders hohem Risikofaktor (Fitnessstudios, Sporthallen, etc.).
  • Defibrillations- und Insulindrohnen im ländlichen Raum einführen.
  • Europäische Standards für Erste-Hilfe.
  • Erste-Hilfe-Fortbildungspflicht für Erzieher*innen, Lehrer*innen und Trainer*innen.
  • Forschungsgelder für den Ausbau digitaler Hilfen in der Ersten-Hilfe (Drohnen, AED, etc.)

 

[1] Ähnlich wie bei der Kampagne zur Bildung einer Rettungsgasse auf Autobahnen.

F8 [zurückgezogen] Wir sagen H&M und Co. den Kampf an

2.09.2021

Plus Size Mode wird von immer mehr Modeketten angeboten, ist jedoch oft nur im Online Handel verfügbar. In den Geschäften hingegen sucht man Mode in großen Größen meist vergebens. Somit wird die Bekleidung, die von einem großen Teil der Bevölkerung benötigt wird, in eine Nische gedrängt – es entsteht der Eindruck, dass sie keine „normale“ Mode ist. Da in Deutschland mehr als 50% der Bevölkerung einen BMI von über 25 haben, kann von einer Nische jedoch keine Rede sein.
Deshalb muss mit dieser Stigmatisierung endlich Schluss sein.

Insbesondere für junge Menschen ist es sehr schwierig, Plus Size Kleidung offline zu erwerben. In vielen Innenstädten und Einkaufzentren werden große Größen nur in speziell darauf ausgerichteten Läden verkauft. Diese haben in der Regel eine eher ältere Zielgruppe. Kleidung, die den aktuellen Modetrends junger Menschen entspricht, wird nicht ausreichend angeboten. In der Folge können junge Menschen, die Plus Size Mode tragen, nicht in gleichem Umfang am gesellschaftlichen Leben teilhaben wie ihre Mitmenschen. So würden beispielsweise 35% der kurvigen Frauen gerne einen Bikini tragen, trauen sich jedoch nicht oder finden kein passendes Modell. Bei schlankeren Frauen sind es nur 21%.

Warum Plus Size Mode nur so selten vor Ort in den Stores angeboten wird, ist schwer nachzuvollziehen. Der Markt für große Größen wächst, und immer mehr Modeketten erkennen diesen Trend und bieten online Plus Size Kollektionen an. Im Vereinten Königreich wird mit einem jährlichen Wachstum dieses Marktes von 5-6% gerechnet. Hier und in anderen Ländern, wie beispielsweise den USA, haben die Kollektionen auch bereits ihren Weg in die Geschäfte gefunden. In Deutschland ist dies bisher kaum zu beobachten. Konsumenten sind nach wie vor darauf angewiesen, ihre Kleidung online zu erwerben. Dies führt zum einen zu den bereits beschriebenen Diskriminierungserfahrungen, belastet zum anderen jedoch auch die Umwelt und schwächt den lokalen Einzelhandel.

All das müsste nicht sein. Der Schritt vom Onlineverkauf in den Einzelhandel ist machbar und längst überfällig.

Deshalb fordern wir eine Rechtsnorm, die Modeketten dazu verpflichtet, ihr bereits bestehendes Plus Size Sortiment nicht nur online, sondern auch offline anzubieten. Dieser Schritt würde die Lebensqualität der Menschen, die Plus Size Mode tragen, deutlich erhöhen. Gleichzeitig kann darauf gehofft werden, dass sich durch mehr Sichtbarkeit im Alltag eine Dynamik ergibt, die Plus Size Mode als eine feste Größe im Bekleidungshandel etabliert, sodass auch Modeketten, die bisher kein Plus Size Sortiment anbieten, dazu angeregt werden, ein solches zu entwickeln.

F7 [zurückgezogen] Gewaltschutz von Frauen und Mädchen – Frauenhäuser auskömmlich und nachhaltig finanzieren

2.09.2021

Die Zahl der Fälle von Gewalt an und Missbrauch von Frauen und Mädchen nimmt zu. Ein Trend, der sich seit Jahren fortsetzt. Diese Situation macht die Notwendigkeit von Unterstützungs- und Beratungsangeboten sowie von Schutzräumen für Betroffene umso wichtiger.

Bis heute besteht jedoch ein regelrechter Flickenteppich der Finanzierung von Frauenhäusern und bestehende Förderungen des Landes decken in der Regel nur einen Bruchteil der entstehenden Personal- und Betriebskosten. Mehr noch sind der Förderung auch formelle Grenzen, etwa für die Zahl förderfähiger Einrichtungen insgesamt oder für die geförderten Personalstellen einzelner Einrichtungen gesetzt.

Dies hat zur Folge, dass nicht nur keine ausreichende Finanzierung bestehender Einrichtungen gegeben ist, sondern auch, dass die Verfügbarkeit von Schutzräumen für von Gewalt und Missbrauch betroffenen Frauen und Mädchen dem tatsächlichen Bedarf keinesfalls decken kann.

Letztendlich bedarf es für eine auskömmliche Finanzierung der Einrichtungen des Gewaltschutzes endlich auch eindeutige Absprachen und Zuständigkeitsverteilungen zwischen Land, Bund, Kreisen sowie den Städten und Gemeinden.

Noch immer kommt es täglich vor, dass Frauen und ihre Kinder, die von Gewalt betroffen sind, auf der Suche nach Schutz abgewiesen werden müssen. Weil kein Platz frei ist. Oder weil die Finanzierung nicht gesichert ist, weil z.B. der Leistungsbezug nicht geklärt ist, die Frau zu viele Kinder hat oder weil sie behindert ist und die Häuser nicht barrierefrei sind.

Die Istanbul-Konvention verpflichtet Deutschland dazu, bedarfsgerechte Hilfsangebote zum Gewaltschutz von Frauen und Mädchen bereitzustellen, die selbstverständlich kostendeckend finanziert sein müssen. Von einem bedarfsgerechten Hilfsangebot, wie in der Istanbul Konvention vorgesehen, sind wir noch weit entfernt. Die bisherigen Bemühungen wirken angesichts der Pandemie und den sich zuspitzenden Situationen in den Familien wie ein Tropfen auf den heißen Stein.

Bestehende Einrichtungen sind nicht kostendeckend finanziert, obwohl sie mit ihren Aufgaben zur Daseinsvorsorge zählen sollen. Spendenakquise und Verwaltungsarbeiten für Fördernachweise der zahlreichen Projektförderungen binden wertvolle Zeitressourcen, die für die Arbeit in der Beratung fehlen. Hier braucht es endlich eine Kehrtwende und einen Systemwechsel in der Finanzierung des Gewaltschutzes. Wir treten langfristig für einen Rechtsanspruch auf Schutz und Hilfe auf Bundesebene ein, um den Systemwechsel zu vollziehen.

Hier ist die Landesregierung in der Pflicht, den Flickenteppich der Finanzierung von Frauenhäusern zu beseitigen und endlich eine auskömmliche Finanzausstattung sicherzustellen.

Daher fordern wir:

  • Die Landesregierung auf, die Finanzierung von Frauenhäusern auf eine nachhaltige und auskömmliche Basis zu stellen und zu gewährleisten, dass ein fortlaufender Betrieb der Einrichtungen möglich ist.
  • Den bedarfsgerechten Ausbau von Kapazitäten für den Gewaltschutz von Frauen zu unterstützen und bestehende (rechtliche) Hürden, die dem im Weg stehen, zu beseitigen. Besonderes Augenmerk ist dabei auf bisher unterversorgte Regionen NRWs zu legen.
  • Unterstützungs-, Präventions- und Beratungsangebote finanziell stärker zu unterstützen, damit diese umfassend und in ausreichendem Maße bereitgestellt werden können. Hierzu zählt insbesondere auch die Unterstützung bei Personalkosten.

F6 Powerhäuser? Nicht mit uns! – Für dezentralen, bedarfsgerechten Gewaltschutz für Frauen

2.09.2021

Triggerwarnung: Im Folgenden wird (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen* und Kinder thematisiert.

Als feministischer Verband finden wir es wichtig und richtig, dass die schwarz-gelbe Landesregierung den Gewaltschutz für Frauen* in Nordrhein-Westfalen voranbringen und stärken möchte. Die Förderung der Hilfs- und Beratungsstrukturen von der Landesseite ist unumgänglich, um eine flächendeckende Versorgung in ganz NRW zu gewährleisten. Unterstützungsangebote für Frauen* müssen vorhanden sein und in Anspruch genommen werden können – egal, ob in der Stadt oder in ländlichen Regionen. Sowohl während der Pandemie als auch unabhängig von dieser muss der Schutz von Frauen*, die Gewalt erfahren haben, jederzeit sichergestellt sein.

Als Jungsozialist*innen ist es unser erklärtes Ziel, die Unterstützungsleistungen für von Gewalt betroffene Frauen* und Kinder auszubauen. Allerdings teilen wir nicht das Verständnis der Landesregierung, wie dieses Ziel erreicht werden soll. Einige Pläne des Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung unter Leitung von Ministerin Scharrenbach sehen wir kritisch.

Zunächst wird vom Ministerium anerkannt, dass viele Menschen, denen Gewalt widerfahren ist, nicht wissen, an wen sie sich diesbezüglich wenden können. Häufig herrscht wenig bis keine Information darüber, welche Beratungs- und Schutzeinrichtungen professionelle Hilfe für Betroffene leisten. Zudem könne die Vielfalt und Differenziertheit der Unterstützungsangebote laut dem Ministerium zu einem Problem werden: zum einen könnte eine organisatorisch niedrigschwellige Versorgung für Menschen, die Beratung und Schutz von verschiedenen Stellen in Anspruch nehmen, erschwert sein. Zum anderen seien die Wege zu unterstützenden Einrichtungen aufgrund der Komplexität des Hilfssystems oft weit und schwierig zu erreichen.

Um diesen Problemen entgegenzuwirken, hat Gleichstellungsministerin Scharrenbach unterschiedliche Maßnahmen formuliert, die im Rahmen des sogenannten „Nordrhein-Westfalen-Pakt gegen Gewalt“ verwirklicht werden sollen. In einem ersten – noch nicht endgültigen – Entwurf des Anti-Gewalt-Paktes ist die Etablierung sogenannter „Powerhäuser“ vorgesehen, die der Weiterentwicklung des Gewaltschutzes für Frauen* dienen sollen. In den Powerhäusern will die Landesregierung diverse Hilfsangebote an einem Ort zentralisieren. Verschiedene Schutzeinrichtungen und Beratungsstellen, die auf unterschiedliche Gewaltformen spezialisiert sind, sollen unter einem Dach zusammengebracht werden. Dadurch sollen die Einrichtungen an Bekanntheit gewinnen und der organisatorische sowie räumliche Zugang zu diesen soll erleichtert werden. Neben Unterstützungsangeboten für Frauen* und Kinder sollen auch Stellen gegen Gewalt gegen Männer und die Arbeit mit Täter*innen in den Powerhäusern einen Platz finden.

Umfassende, barrierefreie Information statt Zentralisierung

Als Jusos erkennen wir das Problem an, dass die nordrhein-westfälische Bevölkerung nicht hinreichend über Hilfsangebote und Beratungsstrukturen bei Gewalterfahrung informiert ist. Daran möchten wir entschieden arbeiten. Die geeignete Lösung für eine bessere Information kann aber nicht sein, die verschiedenen unterstützenden Stellen an einen Ort zu verlagern.

Wir wollen durch andere Maßnahmen auf die Angebote aufmerksam machen. Professionelle Hilfe bei Gewalterfahrung muss barrierefrei und inklusiv gestaltet sein. Das inkludiert sowohl vor Ort für einen Zugang ohne Treppen zu sorgen als auch auditive Informationen und Brailleschrift zu berücksichtigen. Informationen müssen in einfacher Sprache bereitgestellt sein, damit sie für alle Menschen verständlich sind – egal, welchen Hintergrund eine Person hat. Zusätzlich muss auf verschiedenen Sprachen aufgeklärt werden, um beispielsweise auch migrantisierte und geflüchtete Frauen* zu erreichen. Auch die spätere Beratung und Therapie muss muttersprachlich möglich sein, damit betroffene Frauen* ihre Erfahrungen und Gefühle schildern können, ihnen Angst genommen wird und mögliche Hemmnisse abgebaut werden. Das bedeutet auch, die Kosten für Dolmetscher*innen bereitzustellen, was bislang nicht immer der Fall ist. Damit alle Menschen und insbesondere Mitglieder der LGBTQI+ Community wissen, an welche Stellen sie sich wenden können, muss darüber auf Websites und Broschüren der Einrichtungen informiert werden.

Informationen über die verschiedenen Hilfsangebote müssen über ganz verschiedene Kanäle an von Gewalt Betroffene gelangen. Dazu zählen leicht verständliche Plakate und Broschüren an öffentlichen Orten, aber auch Information und Gewaltprävention in Schulen oder Unterkünften, wo beispielsweise geflüchtete Menschen untergebracht sind. Nur so kann beachtet werden, dass die Hürde, Hilfe in Anspruch zu nehmen, so niedrig wie möglich ist. Selbstverständlich muss im 21. Jahrhundert neben der analogen Welt auch über Social Media informiert werden.

Keine Bedarfsgerechtigkeit mit Powerhäusern!

Dass Schutzeinrichtungen und Beratungsstellen für viele Frauen* aufgrund von weiter Entfernung und schlechtem Anschluss nicht gut zu erreichen sind, ist eine weitere Schwierigkeit, der wir uns widmen müssen. Allerdings lösen Powerhäuser dieses Problem nicht, sondern verstärken es. Durch zentralisierte Stellen an einem Ort wird kein flächendeckendes Angebot gewährleistet, dass Frauen* in allen Regionen Zugang zu Hilfe ermöglicht – so kann keine wohnortnahe Versorgung garantiert werden. Infolgedessen ist die Erreichbarkeit der Powerhäuser vor allem für Frauen*, die aufgrund ihres Alters, einer Erkrankung oder finanziellen Gründen weniger mobil sind, nicht sichergestellt. Auch Frauen* mit Kindern, die diese nicht aus ihrem gewohnten Umfeld (mit Schule und KiTa) reißen wollen, möchten wohnortnah untergebracht werden. Die Wege zu den Powerhäusern sind für viele Frauen* teurer und weiter, sodass insbesondere für Frauen* aus dem ländlichen Raum ohne Auto aufgrund von unzureichender ÖPNV-Anbindung weitere Schwierigkeiten entstehen. Die räumliche Niedrigschwelligkeit, die sich die Landesregierung durch die Zentralisierung der Hilfsangebote erhofft, wird in vielen Fällen nicht erfüllt werden können. Zudem schränken Powerhäuser die Wahlfreiheit der Betroffenen ein, die bei ihrer Hilfesuche gegeben sein muss.

Die Beratungsstruktur würde durch die Zentralisierung nicht nur räumlich nicht mehr bedarfsgerecht sein. Um die Bedarfsgerechtigkeit der Unterstützungsangebote zu bewahren, muss ihre Komplexität und Differenziertheit aufrechterhalten werden. Wesentlich dafür ist die Autonomie und Diversität der verschiedenen Träger und Kooperationspartner*innen, denn nur mit einer Vielfalt an Angeboten kann auf die Vielfalt an Bedarfen reagiert werden. Vom Patriarchat marginalisierte Gruppen wie Frauen*, die Gewalt im Migrations- und/oder Fluchtprozess erfahren haben, Frauen* mit Behinderung, illegalisierte Frauen*, Frauen mit psychischen und/oder physischen Erkrankungen, Menschen, deren geschlechtliche Identität und Sexualität nicht der heteronormativen Vorstellung entspricht, und weitere müssen durch differenzierte, spezialisierte Beratung Berücksichtigung für ihre spezifischen Bedürfnisse finden.

Eine Vernetzung der Hilfsangebote untereinander ist essenziell, um die Versorgung von Betroffenen bestmöglich zu gewährleisten. Verschiedene Einrichtungen an einem Ort unterzubringen, kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein, um Vernetzung zu erreichen. Diese muss durch die Erhöhung finanzieller, zeitlicher und personeller Ressourcen ermöglicht werden.

Powerhäuser bedeuten Unsicherheit für Frauen*

Um eine Erhöhung der Sicherheit für von Gewalt betroffene Frauen* zu erreichen, wie sie sich die nordrhein-westfälische Landesregierung von der Etablierung der Powerhäuser verspricht, ist es gerade wichtig, dass Schutzeinrichtungen und Beratungsstellen an unauffälligen Orten gelegen sind. Wenn betroffene Frauen* Unterstützung in Anspruch nehmen, ist dies eine private und persönliche Angelegenheit, von der nicht jede und jeder wissen muss, wenn dies nicht gewünscht ist. In vielen Fällen ist es gerade diese Privatsphäre, die Leben rettet, wenn eine Frau* vor Gewalt in den eigenen vier Wänden flüchten muss. Diskretion und Privatsphäre können besser bewahrt werden, wenn Hilfsangebote dezentral und nicht an einem Ort lokalisiert sind. Plan des Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung ist es, zahlreiche Beratungsstellen, Behörden, Schutzeinrichtungen und Kooperationspartner*innen unter einem Dach anzuordnen, sodass ein solches Gelände riesig und auffällig wäre. Die Landesregierung strebt an, einen hohen Bekanntheitsgrad für die Powerhäuser zu erreichen, sodass jede*r über die dort ansässigen Unterstützungsangebote für Gewaltschutz Bescheid wüsste. Frauen*, Mädchen* und Kinder, die zu einem Powerhaus laufen oder mit dem Rad oder öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, könnten dabei beobachtet oder im schlimmsten Fall verfolgt werden. Ihre Privatsphäre und Anonymität werden verletzt, ihr Schutz wird bedroht. Weil Sicherheit für Frauen* und insbesondere für von Gewalt betroffene Frauen* für uns als feministischen Verband gewährleitet werden muss, lehnen wir eine Zentralisierung der Hilfsangebote entschieden ab, denn diese gefährden die Sicherheit von Frauen* und Kindern.

Ungleiches auch ungleich behandeln!

Die Unsicherheit, die Frauen* durch eine Zentralisierung der unterstützenden Einrichtungen widerfährt, wird darüber hinaus dadurch verstärkt, dass Täter*innenarbeit und Gewaltschutz für Männer ebenso Raum in den Powerhäusern finden sollen. Ohne die Bedeutung von Täter*innenarbeit negieren zu wollen, darf diese keinen Platz an dem Ort haben, an dem von Gewalt betroffene Frauen* Schutz suchen. Der safer space, den Frauen*beratungsstellen und Frauen*häuser für Betroffene aufbauen, wird durch die Präsenz der (überwiegend männlichen) Täter*innen und Hilfsangebote für Männer stark bedroht.

In einer heteronormativen Gesellschaft mit patriarchalen Machtverhältnissen wie der unseren muss geschlechtsspezifische Gewalt anerkannt werden. Frauen* werden häufiger gestalkt und sexuell belästigt. Catcalling gehört für viele Frauen* zum Alltag. Das Ermorden von Frauen* aufgrund ihres Frau*seins, Femizide, haben einen Namen bekommen. Nach einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend waren etwa 115.000 der 141.792 erfassten Opfer von Partnerschaftsgewalt im Jahr 2019 weiblich, was mehr als 81% ausmacht. Von Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexuellen Übergriffen in Paarbeziehungen waren zu 98,1% Frauen* betroffen. 76,4% der Opfer von Mord und Totschlag in Partnerschaften waren weiblich. Gewalt gegen Frauen* und Gewalt gegen Männer darf niemals gleichgesetzt werden und muss ungleich behandelt werden, denn sonst wird Gewalt gegen Frauen* verharmlost.

Trotzdem muss auch die Existenz von Gewalt gegen Männer anerkannt werden – sie ist Realität und wird häufig nicht wahrgenommen und ausgeblendet. Um für von Gewalt betroffene Männer Unterstützungsangebote bereitzustellen, die ihren Bedarfen entsprechen, ist es umso wichtiger, zwischen Gewalt gegen Frauen* und Gewalt gegen Männer zu differenzieren. Nur so können spezifische Hilfsleistungen für Männer geboten werden, die an ihre männlich sozialisierten Lebenswelten anknüpfen.

Aus unserer Sicht lässt sich durch viele Punkte, die im Rahmen des „Nordrhein-Westfalen-Pakts gegen Gewalt“ vom Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung formuliert werden, das eigentliche Ziel des Paktes nicht erreichen: mehr Gewaltschutz für Frauen*. Einige Maßnahmen erschweren die Situation für Frauen*, statt sie zu verbessern. Insbesondere die angestrebten Powerhäuser sind ein Schritt zurück für alle, die sich seit Jahren und Jahrzehnten für den Schutz von Frauen* einsetzen. Wir solidarisieren uns mit den Verbänden, Kooperationspartner*innen und Trägern, die die geplante Zentralisierung der Hilfsangebote ablehnen.

Wir fordern:

  • Umfassende Information und Aufklärung über Hilfsangebote für von Gewalt betroffene Menschen: barrierefrei, in zahlreichen Sprachen und über verschiedene analoge sowie digitale Kanäle verbreitet.
  • Die Sicherstellung der Übernahme von Kosten für Dolmetscher*innen, wenn diese bei der Beratung und dem Schutz von von Gewalt Betroffenen benötigt werden.
  • Dass die Versorgung von von Gewalt betroffenen Menschen bedarfsgerecht nach den Maßgaben der Istanbulkonvention für alle Menschen zugänglich ist. Die Umsetzung von zentralisierten Powerhäusern lehnen wir ab, um flächendeckend und insbesondere in ländlichen Regionen Gewaltschutz zu garantieren.
  • Dass die Sicherheit von Frauen* und Kindern an oberster Stelle stehen. Da die geplanten Powerhäuser den Schutz von betroffenen Frauen* und Kindern bedrohen, fordern wir, dass Hilfsangebote weiterhin dezentral organisiert und lokalisiert bleiben.
  • Dass die Differenziertheit und Komplexität von Hilfsstrukturen bewahrt bleibt, um bedarfsgerechte Unterstützung zu gewährleisten.
  • Dass Gewalt gegen Frauen* und Gewalt gegen Männer differenziert betrachtet und behandelt werden. Täter*innenarbeit und Schutz von Frauen* und Kindern, denen Gewalt widerfahren ist, darf niemals am gleichen Ort stattfinden.

F5 [zurückgezogen] Gewalt gegen Frauen und Kinder im Lockdown

2.09.2021

Wir fordern die SPD-Landtags- und Bundestagsfraktion auf,

  • die Auswirkungen von Covid-19 auf Frauen und Kinder mehr in den Fokus zu setzen, dagegen Maßnahmen vorzunehmen und Initiativen zu starten, häusliche und digitale Gewalt gegen Frauen und Kinder zu reduzieren, um digitale Menschenrechte einzuhalten (z.B. Hilfetelefone wie NRW ausbauen und bekannter machen)
  • Programme zu errichten, um gegen die Folgen von Einsamkeit während des Lockdowns, wie Depression und einen Anstieg von Selbstmordfällen, vorzugehen.

F4 "If it isn’t intersectional, it isn’t feminism" - Gegen antimuslimischen Rassismus im Feminismus

2.09.2021

Antimuslimischer Rassismus ist in unserer Gesellschaft sehr präsent. Nicht nur für muslimische Menschen, auch für die, die als muslimisch gelesen werden.

Er funktioniert durch eine grundlegende Abgrenzung: Die einen, die vermeintlich der Mehrheitsgesellschaft angehören, und die anderen. Dieses Othering meint „Strategien und Rhetoriken, die allesamt dadurch gekennzeichnet sind, dass sie auf Prozesse der Rassifizierung, also der Konstruktion als ‚Andere‘, aufbauen“ (Ozan Zakariya Keskinkilic). Aufgrund des Aussehens, des Namens und/oder der zugeschriebenen Herkunft werden Menschen als muslimisch eingeordnet und kollektiv mit Zuschreibungen versehen. Im Zuge der Abgrenzung bzw. des Othering entsteht so ein Rassismus ohne Rassen (Étienne Balibar), bei dem nicht die Biologie, sondern die Kultur als zentrale Differenz gesehen wird. Eine Kultur, die scheinbar integrationsunwillig, gewalttätig, aber auch sexistisch und frauenfeindlich geprägt ist. Insbesondere der Sexismus wird in diesem Narrativ als Wesenszug des Islam erklärt. So entsteht im antimuslimischen Rassismus ein klares Bild, das die einen zugleich auf- und die anderen abwertet. Auf der einen Seite steht der aufgeklärte, tolerante und fortschrittliche Westen und ihm gegenüber der Islam als rückständig, frauenfeindlich, irrational.

Auch im Feminismus existiert antimuslimischer Rassismus. Zu oft prägen (weiße) Feminist*innen das Narrativ des „muslimischen Mannes“, der rückständig und frauenverachtend ist. Oft wird der „muslimische Mann“ als Macho und Bedrohung für Frauen in westlichen Ländern dargestellt. Auf der anderen Seite sind die muslimischen Frauen, die unterdrückt werden und nicht emanzipiert sind. Feminist*innen sehen sich oft als white saviors für muslimische Frauen. Als Symbol der Unterdrückung gilt das „Kopftuch“ und wird somit zur Projektionsfläche für antimuslimischen Rassismus im Feminismus.

Besonders bei Feminist*innen der sogenannten Zweiten Welle (Frauenbewegung der 60er und 70er Jahre) ist antimuslimischer Rassismus verbreitet. Als wohl bekanntestes Beispiel gilt Alice Schwarzer. Immer wieder hetzt sie gegen das „Kopftuch“ und bezeichnet es „als Flagge des militanten Islamismus“. Frauen, die einen Hijab tragen, sind für Schwarzer per se unterdrückt. Weiter thematisiert sie immer wieder die Gefahr für Frauen in Deutschland durch muslimische Männer. Die Täter der Silvesternacht 2015 nannte sie „fanatisierte Anhänger des Scharia-Islam“, die den deutschen Staat gedemütigt hätten.

Auch wenn sich im materiellen Feminismus schon einiges bewegt hat, findet sich auch dort verbreitet antimuslimischer Rassismus. Die starke Fokussierung auf das Subjekt „Frau“ führt teilweise zu einer Ablehnung des Intersektionalen Feminismus und so werden oft queerfeministisch und/oder antirassistische Perspektiven vernachlässigt. Antimuslimischer Rassismus im Feminismus tritt oft auf durch Paternalismus gegenüber muslimisch markierten FINTA. Wie z.B. Koschka Linkerhand, Vertreterin des materiellen Feminismus, die schrieb: „da die (ex)muslimischen Feministinnen […] ihre Forderungen meist unter sehr hohem persönlichem Einsatze vertreten […] bleibt es vorderhand die Aufgabe westlicher Frauenrechtlerinnen, diesen Realuniversalismus der Moderne feministisch auszuloten.“

Immer wieder in der Kritik ist auch die Frauen-Menschenrechtsorganisation Terre des femmes. Vor allem durch transfeindliche Haltungen wird Terre des femmes häufig kritisiert, aber eben auch durch rassistische. Auch für Tdf ist die Bekämpfung des „Kopftuchs“ zentral. 2018 starteten sie zum Beispiel die Petition “Den Kopf frei haben”, für ein Kopftuchverbot für Mädchen in Schulen und Kindergärten.

Intersektionaler Feminismus darf für uns im Verband nicht nur ein Lippenbekenntnis sein, er muss auch gelebt werden. Dazu gehört die Anerkennung, dass FINTA, die einer marginalisierten Gruppe angehören, nicht nur der Ungleichheit durch ihr Geschlecht ausgesetzt sind, sondern sich ihnen durch weitere diskriminierungsbehaftete Merkmale Ungleichheiten in den Weg stellen.

Wir erkennen also an, dass marginalisierte FINTA, nicht nur durch Sexismus, sondern auch durch Rassismus, Ableismus, Homo- und Transfeindlichkeit und Klassismus ungleich behandelt werden.

Wir wollen patriarchale Strukturen aufbrechen und hinter uns lassen. Das Problem ist aber: Beim weißen cis Feminismus kommt es nur zu einer Verschiebung der patriarchalen Strukturen. So gibt es Ungleichheiten zwischen weißen und nicht-weißen FINTA. Unter den wenigen FINTA in Führungspositionen gibt es noch weniger FINTA of Color, was eine direkte Folge der mehrfach  Diskriminierung (oder intersektionalen Diskriminierung) ist.

Als intersektionale Feminist*innen verurteilen wir unter anderem das neue Neutralitätsgesetz, dass es ermöglicht, FINTA aufgrund des Kopftuchs die Einstellung zu verweigern.

Wer sich für die Berufsausübung als Lehrerin oder Juristin etc. qualifiziert hat, muss auch das Recht haben, den Beruf als die Person auszuüben, die sie ist. Das Argument, dass die Neutralität durch ein religiöses Symbol, wie das Kopftuch (Hijab), nicht mehr geboten ist, ist außerdem unhaltbar.

Es ist ein Skandal, dass für die Geltung des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes aus Art. 3 GG sowie der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG für kopftuchtragende FINTA gekämpft werden muss.

Die Geltung ihrer Grundrechte muss selbstverständlich sein.

Berufsverbote bewirken gesellschaftliche Ausgrenzung und Unterdrückung. Es schiebt kopftuchtragenden FINTA einen Riegel vor die Tür zur Entscheidungsfreiheit. Wenn sie davor stehen einen Berufsweg zu wählen, darf die Entscheidung nicht zwischen Glauben und Beruf gefällt werden. Das eine darf das andere nicht verhindern.

Wir stehen gegen Berufsverbote und für gesellschaftliche Inklusion.

Wir Jusos sind ein antirassistischer Verband. Jegliche Formen von Rassismus, dazu zählt auch antimuslimischer Rassismus, werden abgelehnt und bekämpft. Genau das, sollte stets in der Arbeit unseres Verbands widergespiegelt werden. Dementsprechend verpflichtet sich der Landesverband dazu sich mit Referent*innen, die er zu seinen Veranstaltungen einladen möchten kritisch auseinanderzusetzen. Sollten antimuslimisch rassistische Aussagen von Referent*innen bekannt sein oder bekannt werden, so werden diese nicht eingeladen oder sie werden ausgeladen und ihnen wird keine Bühne geboten.

Bekanntermaßen gibt es einige wichtige Feminist*innen, wie bspw. Koschka Linkerhand, die eine grundlegende Arbeit für unseren Feminismus geleistet haben, sich aber antimuslimisch rassistisch äußern. In solchen Fällen sollten keine Feminist*innen und all ihre Arbeit aufgrund von antimuslimisch rassistischen Aussagen komplett abgelehnt werden. Da Teile ihrer Arbeit eine große und wichtige Rolle für unseren Feminismus spielen, müssen wir uns auch weiterhin mit diesen beschäftigen. Das bedeutet aber, dass immer auf antimuslimisch rassistische Aussagen in Texten und Aussagen aufmerksam gemacht werden muss und ein kritisches Bewusstsein geschaffen werden muss.

Für uns ist klar: Als Verband dürfen wir uns nicht nur intersektionalen Feminismus auf die Fahne schreiben, wir müssen ihn auch leben!

F3 Die Straßen denen die drauf laufen

2.09.2021

Problem:

Frauen erleben immer noch alltäglich nicht körperliche sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum. Dies erfolgt durch anzügliche Kommentare, Pfiffe, Hupen etc.., zusammengefasst unter dem Begriff „Catcalling“.  Einen Schutz gegen diese Form von Belästigung bietet der Gesetzgeber bis jetzt nicht.

Rein verbale, sexistisch konnotierte Äußerungen werden über Delikte wie sexuelle Nötigung, sexueller Übergriff, Vergewaltigung, Bedrohung, Nachstellung, Exhibitionismus und sexuelle Belästigung im Strafgesetzbuch nicht erfasst. Die bisherigen Sexualdelikte knüpfen als entscheidendes Kriterium alle am körperlichen Kontakt an. Auch der Straftatbestand der Beleidigung wird in den meisten Fällen des Catcallings nicht erfüllt, da eine Herabsetzung der Betroffenen im Sinne des Gesetzes in den meisten Fällen ausbleibt.

Auch im Bereich der Ordnungswidrigkeiten findet sich keine Vorschrift, die ein solches Verhalten mit Bußgeld bedroht.

Eine solche Lücke ist nicht hinnehmbar. Ein Staat, der nicht verhindert, dass Frauen auf offener Straße belästigt werden, kommt seiner Funktion die öffentliche Ordnung zu sichern, nicht zu Genüge nach. Der bisherige stiefmütterliche Umgang mit diesem Thema, ist Ausdruck dafür wie selten es aufgrund von mangelnder Repräsentanz, sowie Mut- und Ideenlosigkeit gelingt die vorhanden feministischen Bestrebungen in echte Realpolitik umzusetzen. Diese Lücke gilt es schnellstmöglich zu füllen. Es ist unsere Pflicht als Jusos „Catcalling“ nicht nur aufs Schärfste zu verurteilen, sondern es auch effektiv zu bekämpfen. Dazu soll dieser Antrag beitragen.

Einordnung

Zunächst gilt es die grundsätzliche Frage zu klären, wie Catcalling innerhalb des deutschen Rechtssystems einzufügen ist. Dabei wird zwischen Ordnungswidrigkeiten und Straftaten unterschieden. Diese unterscheiden sich in ihrem Unrechtscharakter und in der Form der Bestrafung. Während Ordnungswidrigkeiten mit Bußgeldern bestraft werden, können Straftaten auch zu Gefängnisstrafen führen. Zudem unterscheiden sich die Zuständigkeiten und das Verfahren. Wegen einer Ordnungswidrigkeit wird man gewöhnlich nicht verurteilt und ist in keinem Fall danach vorbestraft.

Catcalling ist nicht mit dem Anstandsgefühl einer modernen und gleichberechtigten Gesellschaft vereinbar. Es widerspricht ihrer grundsätzlichen Regel, Belästigung der Mitmenschen im Rahmen der eignen Freiheitsausübung zu unterlassen. Es kann nachweislich zu körperlichen und emotionalen Schäden bei den Betroffenen, bis hin zu Muskelverspannungen, Atembeschwerden, Schwindel und Übelkeit sowie starker Angst führen. Darüber hinaus fördert es Körperüberwachung und Selbstobjektivierung und es kann sogar zu einer Einschränkung der Mobilität von Betroffenen beitragen. Es vermindert nicht nur das Gefühl der Sicherheit und des Komforts der Betroffenen an öffentlichen Orten, sondern schränkt auch ihre Bewegungsfreiheit ein und nimmt ihnen die Freiheit und Sicherheit im öffentlichen Raum. Betroffene Frauen beurteilen ihre Umgebung, schränken die Wahl der Kleidung ein, entscheiden sich für Bewegung im Haus und meiden bestimmte Nachbarschaften oder Wege als proaktive Maßnahmen, um das Risiko, belästigt zu werden, zu verringern. Insgesamt führt Catcalling als gesellschaftliches Phänomen somit zu einer teilweise massiven Einschränkung der Lebensqualität der Betroffenen.

All diesen Folgen, bleibt jedoch gemein, dass sie mittelbar und nicht auf die einzelne Tat zurückführbar bleiben. Der unmittelbare Schaden und die Sozialschädlichkeit des Verhaltens des Einzeltäters bleiben dagegen, hinter denen der sonstigen Sexualdelikte weit zurück. Eine Einordnung des „Catcalling“ als Straftatbestand, würde entweder die dogmatischen und letztendlich verfassungsrechtlichen Ansprüche an ein Strafgesetz unterschreiten, oder ein Erheblichkeitskriterium enthalten, welches die Durchschlagskraft des Gesetzes nicht unwesentlich einschränken würde.

Ein solches Erheblichkeitskriterium für nicht körperliche Angriffe hat die Rechtsprechung bereits zur Beleidigung entwickelt, wonach der Täter durch seine Äußerung zum Ausdruck bringen muss, das Opfer würde einen seine Ehre mindernden Mangel aufweisen. Dies ist bei den meisten Formen des Catcalling schlicht nicht gegeben. Ein „Catcalling“ Paragraph im Strafgesetzbuch würde aber demselben oder zumindest einem sehr ähnlichen Kriterium unterliegen.

„Catcalling“ als Straftat würde nicht umfassend zu einer Verfolgung und Prävention all dessen, was unter „Catcalling“ verstanden wird, beitragen. Ein echter Mehrwert zu den vorhandenen Tatbeständen erscheint zweifelhaft. Ein Catcallinggesetz sollte aber aus unserer Sicht gerade dazu dienen, sexuelle Belästigungen, denen noch nicht die sozialschädliche Wirkung einer Straftat zukommt, Einhalt zu gebieten. Deswegen fordern wir, dass Ordnungswidrigkeitengesetz um einen „Catcalling-Paragraphen“ zu ergänzen.

Der „Catcalling-Paragraph“

Der „Catcalling-Paragraph“ soll jede Geste oder Verhalten gegenüber einer anderen Person im öffentlichen Raum umfassen, die dazu geeignet ist entweder die Würde des Gegenübers zu untergraben oder eine einschüchternde, feindselige, bedrohliche, hasserfüllte, missbräuchliche, abfällige oder verletzende Situation zu schaffen. Zu bestrafen ist die Ordnungswidrigkeit mit mindestens 250 Euro und einem Höchstsatz von 1500 Euro Bußgeld. Im Falle der Wiederholung ist die Mindesthöhe auf 500 Euro anzuheben.

Durch den Paragraphen erhalten Betroffene die Möglichkeit, entsprechendes Verhalten anzuzeigen und dem Staat stehen endlich die bekannten ordnungsbehördlichen Mittel zur Verfügung, um gegen diese Form der Belästigung vorzugehen. Die Verfolgung wird allerdings häufig aufgrund fehlender Identifizierung der Täter*innen oder nicht hinreichender Beweislage scheitern. Der Beistand des Staates für die Opfer darf und kann somit nicht mit Einführung des Paragraphen enden.

Wir fordern deswegen darüber hinaus:

  1. Einen umfassenden Jahresbericht über die Auswirkungen des „Catcalling-Paragraphen“, aus dem ersichtlich wird wo, wann und wie oft „Catcalling“ angezeigt wurde, wie viele Bußgeldbescheide aufgrund dessen erteilt wurden und welche weitergehenden Maßnahmen geplant und durchgeführt wurden, um Catcalling zu unterbinden.
  2. Eine Strategie der Ordnungsbehörden, um Catcalling zu verhindern und eigeninitiativ zu verfolgen. Diese muss einen höheren Präsenz von Ordnungsbehörden an Orten umfassen an denen häufig Catcalling angezeigt wird und darüber hinaus zumindest in größeren Städten Streifen, die schwerpunktmäßig nach Ordnungsverstößen bezogen auf den Catcalling Paragraphen Ausschau halten.
  3. Weitergehende staatliche Aufklärungsmaßnahmen wie Kampagnen etc., die über die Folgen und die Bedeutung von Catcalling informieren.