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F2 My Body is not your Porn!

2.09.2021

Sexuelle Übergriffe gegen Frauen sind ein großes Problem und werden traurigerweise nicht weniger problematisch. Das Patriarchat in dem wir leben nutzt jede Situation, jeden Umstand und jeden Blickwinkel um diese Machtverhältnisse zu demonstrieren. Frauen werden sexuell belästigt, bedrängt, ihre Körper werden kommentiert, es werden ohne Einverständnis Aufnahmen von ihnen gemacht und leider heißt Nein immer noch viel zu oft nicht Nein. Der Kampf um die sexuelle Selbstbestimmung ist ein immerwährender und kräfteraubender, auch dann, wenn Frau denkt, sie sei alleine. Am Anfang diesen Jahres deckte eine Reportage sexuelle Übergriffe auf linken Festivals auf. Während den

Festivals – Monis Rache und dem Fusion Festival – wurden geheime voyeuristische Aufnahmen auf Dixiklos von weiblich gelesenen Personen gemacht und diese Aufnahmen wurden ohne das Einverständnis jener auf pornografischen Seiten veröffentlicht, getauscht und sogar verkauft. Dass diese zwei Fälle auf gedeckt wurden, ist jahrelanger Arbeit von Reporter*innen zu verdanken. Die Realität ist aber, dass solche voyeuristischen Aufnahmen tagtäglich gemacht werden – in Schwimmbädern, Fitnessstudios, Saunabädern, sogar im engsten Umfeld bei Bekannten auf der Toilette. Viele der Fälle bleiben im Verborgenen und die Täter stets ungestraft. Diese Aufnahmen entstehen jeweils in größter Missachtung der Persönlichkeitsrechte und der sexuellen Selbstbestimmung der aufgenommenen Frauen. In einem so privaten Raum, wo kaum ein Mensch aufgenommen werden will, werden täglich viele Frauen aufgenommen. Viele wissen von diesen Aufnahmen oft nichts und diejenigen, die diesen Umstand kennen, haben, egal wo sie sind, ein mulmiges Gefühl. Der Aufschrei nach der Reportage war passend – in vielen Städten gingen Frauen auf die Straße und brachten ihre Wut, ihren Hass gegenüber dem Patriarchat und den Tätern zum Ausdruck, die sogar Profite an den Aufnahmen erwirtschafteten. Gleichzeitig brachten sie aber auch ihr Schamgefühl und ihre Hilflosigkeit zum Ausdruck. Wenn selbst in Safer Spaces, wie auf jenen linken Festivals oder im Umfeld von Bekannten, sexuelle Übergriffe in dieser Form stattfinden, kann sich jede Frau sicher sein, dass man anscheinend nirgends mehr sicher ist. Nicht auf öffentlichen Toiletten, nicht in Schwimmbädern, Fitnessstudios oder in Safer Spaces. Der Kampf gegen patriarchale Gewalt und sexuelle Übergriffe ist ein sehr ermüdender und trotz kleiner Errungenschaften sind diese Aufnahmen Ausdruck dessen, dass sich Männer viel zu oft das Recht nehmen über den Körper von Frauen zu bestimmen und Frauenkörper zu sexualisieren. Diese sexuellen Übergriffe nehmen unterschiedliche Gestalten an. Sie geschehen wie beschrieben in sehr privaten Räumen aber auch im öffentlichen Raum: Upskirting, also unbefugte Aufnahmen unter dem Rock, oder Downblousing, unbefugte Aufnahmen vom Brustbereich, sind einige Varianten, die seit diesem Jahr endlich strafbar sind. Dies ist unter anderem auch der SPD Fraktion zu verdanken und ein wichtiger Meilenstein im Sinne der sexuellen Selbstbestimmung wurde gelegt. Damit einhergehend müssen aber noch weitere Maßnahmen ergriffen werden und es muss ein Umdenken stattfinden!

Wir Jusos begrüßen daher die Gesetzesänderung unbefugte Bildaufnahmen der Genitalien, des Gesäß- und weiblichen Brustbereiches nach § 201 a StGB unter Strafe zu stellen aber sehen auch, dass es das strukturelle Problem nicht annähernd abbildet. Wer dieses Problem lediglich als Problem der Persönlichkeitsrechte an Bildaufnahmen sieht, verkennt, dass es sexuelle Übergriffe sind.

Unbefugte Bildaufnahmen als sexuelle Übergriffe verstehen!

Das unbefugte Herstellen oder Übertragen von Bildaufnahmen der „Genitalien, des Gesäß- und weiblichen Brustbereiches“ muss als sexueller Übergriff verstanden werden und nicht nur als Eingriff in ein Persönlichkeitsrecht. Dass dieses Phänomen in der Debatte rund um die Gesetzesänderung immer im gleichen Atemzug genannt wurde wie das Fotografieren von Unfallorten, zeigt, dass es nicht ausreichend als Gewalt gegen die sexuelle Selbstbestimmung der Frau angesehen wird. Bei diesem Phänomen handelt es sich um eine Erscheinungsform geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen. Unter geschlechtsspezifischer Gewalt gegenüber Frauen versteht man nach seit dem 1. Februar 2018 in Deutschland geltenden Istanbul-Konvention alle Handlungen geschlechtsspezifischer Natur, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oderwirtschaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen oder führen können, einschließlich der Androhung solcher Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsentziehung, sei es im öffentlichen oder privaten Leben. Geschlechtsspezifischer Natur sind sie dann, wenn sie sich gegen eine Frau richten, weil sie eine Frau ist oder Frauen unverhältnismäßig stark betreffen. Das Aufnehmen und das Verbreiten der Bilder fällt unter die Konvention, insbesondere weil sie Frauen unverhältnismäßig häufig betrifft. Die Aufnahmen werden ausschließlich von Frauen gemacht und auf Pornoseiten veröffentlicht und dies ist eine typische Form von Gewalt gegenüber Frauen. Frauen haben oft das Gefühl der Hilflosigkeit, der Scham und noch öfter ändern sie ihr eigenes Verhalten – all dies kann Auswirkungen auf den seelischen Zustand von betroffenen Frauen haben. Diese Aufnahmen stellen klar sexuelle Übergriffe dar, da sie die sexuelle Selbstbestimmung der Frau in jeglicher Form negiert und sind nicht nur irgendwelche Bildaufnahmen. Daher fordern wir, dass in der Strafrechtsanwendung, dass §201 a StGB nicht nur dem allgemeinen Persönlichkeitsschutz dient, sondern auch der sexuellen Selbstbestimmung!

Die abgebildeten Frauen müssen nicht identifizierbar sein!

Damit die Gesetzesänderung greift und die betroffene Person eine Anzeige stellen kann, muss sie identifizierbar sein. Dies deckt aber nicht in annähernder Weise das Unrecht ab. In vielen Fällen werden nur Frauenkörper aufgenommen. Dennoch lässt es sich nicht abstreiten, dass auch diese Art der Aufnahme sexualisierte Gewalt darstellt. Wenn Männer sich das Recht nehmen Frauenkörper zu sexualisieren und über diese bestimmen, ist es nicht nötig, dass die betroffene Frau identifizierbar ist. Sexueller Übergriff bleibt sexueller Übergriff!

Die Länge des Rockes und die Tiefe des Ausschnittes ist keine Einladung!

An der Neufassung ist zu kritisieren, dass eine Strafbarkeit nur dann gegeben ist, „soweit diese Bereiche gegen Anblick geschützt sind“. Dies kann aber dem Narrativ, dass der Rock zu kurz war oder der Ausschnitt zu tief, entgegenkommen. Für uns Jusos ist es aber klar, dass weder ein zu kurzer Rock, noch ein tief geschnittener Ausschnitt eine Einladung dafür ist, Aufnahmen zu machen. Es ist eine strukturelle Gewalt gegenüber Frauen, die überall stattfindet. Dass solche Aufnahmen auch in sehr privaten Räumen, wie auf der Toilette oder unter Dusche, gemacht werden, ist ein Ausdruck dessen, dass diese patriarchale Gewalt sich durch alle Lebensbereiche zieht. Daher müssen diese Übergriffe auch als ein solch strukturelles Problem verstanden werden und der § 201 a StGB einen umfassenden Schutz darstellen.

Betroffene Frauen sind nicht in der Verantwortung!

Aufgrund der heimlichen Natur des Deliktes ist es nötig, dass neben einem Antrag die Strafverfolgung auch von Amts wegen passiert und nicht wie in der aktuellen Fassung nur auf Antrag geschieht. Oftmals wissen Frauen nicht, dass von ihnen Aufnahmen gemacht wurden und diese auf Pornoseiten verbreitet werden und Täter damit sogar Geld verdienen. Daher ist es von großer Bedeutung, dass auch die Strafverfolgung bei einem öffentlichen Interesse von Amts wegen eingeleitet wird. Ein solches öffentliches Interesse muss gegeben sein, wenn eine Vielzahl von Bildern aufgefunden werden, Bilder auf Plattformen verbreitet werden, Gewinnerzielungsabsichten gegeben sind, Minderjährige abgebildet werden und wenn der Täter aus rassistischen, fremdenfeindlichen oder sonstigen menschenverachtenden Beweggründen gehandelt hat.

Feministischer Opferschutz!

Eine Ausgestaltung als Privatklagedelikt wird in Fällen von geschlechtsspezifischer Gewalt den Interessen und Rechten der Opfer nicht gerecht. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat festgestellt, dass in Fällen von geschlechtsspezifischer Gewalt die Verweisung auf den Privatklageweg unangemessen ist, da so der betroffenen Person „eine exzessive Bürde“ auferlegt wird. Eine Privatklage würde daher dem Opferschutz widersprechen. Zudem muss das Delikt in den Katalog des § 395 I StPO aufgenommen werden, um eine Nebenklage zu ermöglichen. Eine Nebenklage in den Fällen von geschlechtsspezifischer Gewalt ist ein wichtiges Instrument, um eine Sekundärviktimisierung im Strafprozess zu vermeiden und dem Täter-Opfer-Ausgleich zu gewährleisten.

Plattformen zur Verantwortung ziehen!

Jene Plattformen, auf denen diese voyeuristischen Aufnahmen veröffentlicht werden, verstecken sich da hinter, dass deren Sitze nicht in der europäischen Union sind und verweisen zudem auf ihre allgemeinen Bedingungen. Alle User*innen dürfen nur Material von Menschen veröffentlichen, wenn diese mit der Veröffentlichung und der Aufnahme einverstanden sind. Die Plattformen argumentieren, dass in den Aufnahmen ein impliziter Konsens gelesen werden kann und auch ein Ausschluss des Einverständnisses durch die Aufnahmen nicht ausgeschlossen werden kann. Dass auf jeglichen Ebenen immer noch nicht verstanden wird, was genau Konsens ist, macht uns wütend. Wir verlangen die Ausgestaltung eines Prüfsystems für solche Plattformen. Wenn das Einverständnis nicht explizit nachgewiesen werden kann, sind die Aufnahmen zu löschen und gegebenenfalls die Plattform zu sperren.

Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen in der Gesellschaft sichtbar machen und bekämpfen!

Für uns Jusos ist klar, dass wir immer kritisch gegenüber Strafrechtsverschärfungen sein müssen. In den Fällen der sexuellen Selbstbestimmung der Frau müssen wir aber auch einsehen, dass auch das Strafgesetzbuch die Geschlechterungerechtigkeit darstellt, ein Abbild von gesellschaftlichen Machtverhältnissen ist und es einen gesellschaftlichen Grund gibt, warum die Selbstbestimmung der Frau wenig geschützt ist. Das Strafrecht allein löst keine gesellschaftlichen Probleme und aus diesem Grund muss neben der Rechtsausgestaltung auch die Rechtsanwendung, durch eine Fortbildungspflicht von Polizist*innen, Staatsanwält*innen und Richter*innen zur geschlechtsspezifischen Gewalt, verbessert werden. Zudem ist es dringend nötig auch einen Bewusstseinswandel in der Gesellschaft herbeizuführen, indem man das Wissen hinsichtlich geschlechtsspezifischer Gewalt sichtbarer macht und im Diskurs verankert. Dies kann durch Öffentlichkeitsarbeit, Präventionsarbeit und Kampagnen zur Bewusstseinsbildung geschaffen werden. Durch die Kampagne „Nein heißt Nein“ wurde das strukturelle Problem der geschlechtsspezifischen Gewalt gegen Frauen im gesamtgesellschaftlichen Diskurs verankert. Dies muss auch in den Fällen gelten, wo Aufnahmen unbefugt von Frauen gemacht und veröffentlicht werden und damit ein hergehend Frauenkörper sexualisiert werden.

Für uns Jusos ist klar: My Body is not your Porn!

F1 Femizide sind keine Beziehungsdramen!

2.09.2021

Ehrenmord, Beziehungsdrama, Familiendrama – all diese Synonyme werden für die Tötung von Frauen durch ihre Partner gebraucht. In Deutschland wird fast jeden Tag eine Frau von ihrem Ehemann, Partner oder Ex-Partner getötet. [1] Das Motiv vieler Täter ist ähnlich: Sie gestehen den Frauen kein eigenständiges Leben zu oder respektieren das Ende der Beziehung nicht. Grundsätzlich werden die Motive von Justiz und Öffentlichkeit zu oft als Ehrenmorde oder Familien- und Beziehungsdramen verstanden. Die NRW Jusos setzten sich dafür ein diese Taten als geschlechtsspezifische Tötungsdelikte anzuerkennen und sie als Femizide zu bezeichnen.

Aktuelle Rechtslage

Im Jahr 2017 ratifizierte Deutschland die sogenannte Istanbul-Konvention, die als bedeutendste europäische Frauenschutzkonvention gilt. Mit der Ratifizierung hat Deutschland sich verpflichtet Frauen vor geschlechtsspezifischer Gewalt zu schützen. Sie hat eine überragende Rolle und gewährleistet einen menschenrechtlichen Schutz vor geschlechterspezifischen Gewalt. Der Austritt von Staaten aus der Istanbul-Konvention, wie auch am 1. Juli die Türkei, zeigt einen Backlash innerhalb des internationalen Schutzrahmens und spiegelt die international vertretene Ansicht wieder, dass der Schutz von Frauen in einer patriarchalen und heteronormativen Welt, nicht nötig ist. Auch hier reiht sich die vehemente Ablehnung Ungarns gegenüber der Konvention ein und der politisch angekündigte Austritt Polens aus der Konvention. Diese Entwicklung zeigt, welches patriarchale und misogyne Klima gerade die Deutungshoheit hat und wie gefährlich die Zeit für Frauen ist. Umso wichtiger ist es, dass Deutschland seiner Aufgabe bei der Umsetzung der Konvention nachkommt. Darunter fällt nach Art. 46(a), dass bei der Rechtsanwendung des nationalen Strafrechts unbedingt zu berücksichtigen ist, ob die Tat durch einen früheren Partner begangen wurde. Nach Art. 12 (5), 42(1) und 46(a) der Konvention ist im Rahmen von Tötungen in Paarbeziehungen dringend zu prüfen, ob das Tatmotiv als Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe zu klassifizieren ist und sich damit strafschärfend auswirkt. In der Realität wir die geschlechtsspezifische Tötung von Frauen in patriarchalen Strukturen durch die Justizbehörden in der Regel als Totschlag bewertet. Dem gegenüber stehen die harten Strafen für arabisch gelesene Männer, die Frauen töten. Diese Morde werden in der Rechtspraxis als sogenannte Ehrenmorde eingestuft und gelten damit als Mord aus niedrigen Beweggründen. So werden geschlechtsspezifische Tötungen von Frauen juristisch nicht nur verkannt, sondern zudem rassistisch bearbeitet. Wir fordern juristische und gesellschaftliche Sensibilisierung für patriarchale Besitzkonstruktionen à la „lieber tot als frei“.

Femizide als solche verstehen!

Femizide müssen als solche erkannt werden. Wenn sich geschlechtsspezifische Gewalt manifestiert, darf nicht jedes Mal von „Beziehungsdrama“ die Rede sein. Daher fordern die NRW Jusos die Sensibilisierung der Rechtsprechung und Strafverfolgung, damit Femizide nicht als Totschlag eingestuft werden. Damit Femizide strukturell verstehen und effektiv verfolgen zu können, bedarf es in der Strafverfolgung die Berücksichtigung der Tatbegehung durch den (Ex-) Partner und die Überarbeitung des §177 StGB, um strafmildernde Umstände durch eine Täter-Opfer Beziehung auszuschließen.

Darüber hinaus müssen Schwerpunktstaatsanwaltschaften geschaffen werden, die sich ausschließlich mit geschlechtsspezifischen Tötungen auseinandersetzten und entsprechend fähig sind, diese, unabhängig von der Täter-Herkunft, zu erkennen. Damit Richter*innen und Staatsanwaltschaft die misogynen und sexistischen Motive hinter Femiziden erkennen, benötigen wir regelmäßige Fortbildungen.

Istanbul-Konvention ohne Eingeständnisse umsetzen!

Wir verlangen die wirksame Umsetzung der Istanbul-Konvention! Als NRW Jusos setzten wir uns dafür ein, dass Deutschland die Konvention wirksam umsetzt und andere Staaten die Ratifizierung vornehmen. Politik und Justiz müssen die Istanbul-Konvention in der Gestaltung bzw. Anwendung von Gesetzten mitdenken, um das Leben von Frauen zu retten* bzw. die geschlechtsspezifische Tötung zu ahnden. Um die Umsetzung der Konvention zu prüfen, fordern wir die Einsetzung von Monitoring-Stellen in Deutschland, die die Fälle im Anwendungsbereich der Konvention überwacht und in ihrer Arbeit durch staatliche Mittel gefördert werden soll. Diese Einrichtung soll zudem gesellschaftliche Aufklärungsarbeit über Femizide leisten. Dazu gehören offensive Aufklärungskampagnen, die Femizide problematisieren und gesellschaftlich sensibilisieren.

Jede Tötung ist eine Tötung zu viel – Der Staat in der Verantwortung

Wir fordern zudem weitere Präventive Maßnahmen, die die Tötung von Frauenverhindern. Nach Artikel 8 der Istanbul-Konvention ist Deutschland dazu verpflichtet angemessene finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen, damit Gewalt gegen Frauen im Allgemeinen sowie häusliche Gewalt bekämpft werden kann. Des Weiteren muss Deutschland gemäß Artikel 22 und 23 der Konvention, Unterstützungsdienste und Schutzunterkünfte bereitstellen. Immer noch werden Mindeststandards bei der Bereitstellung von Unterkünften unterschritten. Es gibt keine flächendeckende Versorgung für Opfer von Gewalt. So fehlt es zum Beispiel an Plätzen in Frauenhäusern. In Nordrhein-Westfalen werden zwei von drei Anfragen abgelehnt. Hinzu kommt, dass nur 10 % der Frauenhäuser barrierearm sind, obwohl Frauen mit Behinderungen überdurchschnittlich häufig von Gewalt betroffen sind. Zuletzt stellt die Sprache besonders für gewaltbetroffene Frauen mit Flucht- und Migrationsgeschichte eine massive Barriere dar. Neben der unzureichenden Anzahl an Frauenhäusern, müssen wir ein weitreichendes Unterstützungssystem etablieren, dass auch Frauen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte in Anspruch nehmen können. Dazu zählen Beratungsstellen, Notrufhotlines, Traumazentren und niederschwellige Therapiemöglichkeiten. Im Allgemeinen ist festzuhalten, dass bundesweit die finanziellen Mittel erhöht werden müssen und gleichwertige Standards in den einzelnen Bundesländern eingeführt werden. Wir fordern die Istanbul Konventionen ernsthaft umzusetzen und Schluss mit symbolpolitischen Frauenschutzmaßnahmen zu machen.

[1] Das Bundeskriminalamt (Hg.), Partnerschaftsgewalt. Kriminalstatistische Auswertung – Berichtsjahr 2017, zählte für das Jahr 2017 insgesamt 364 Tötungsdelikte zu Lasten von Frauen durch deren Ehemann, Partner oder Ex-Partner, von denen 208 im Versuchsstadium blieben und 141 mit dem Tod der Frau endeten.

E4 [zurückgezogen] Ablehnung der Teilnahme der deutschen Nationalmannschaft an der Fußball Weltmeisterschaft 2022 in Katar

2.09.2021

Adressaten: Jusos Düsseldorf, Jusos NRW, Bundes-Jusos, SPD-Parteiführung, SPD-Bundestagsfraktion, SPD-Landtagsfraktion NRW, SPD-Stadtratsfraktion Düsseldorf

Die genannten Adressaten mögen die Teilnahme der deutschen Nationalmannschaft, an der Fußball Weltmeisterschaft 2022 in Katar, ablehnen und dazu öffentlich Stellung beziehen.

D5 Mehr Jugend wagen. Passives Wahlrecht für Bürgermeisterkandidierende

1.09.2021

Die Jusos in der SPD fordern, dass das passive Wahlrecht für die Wahl der Bürgermeister*innen in NRW vom vollendeten 23 Lebensjahr auf das vollendete 18 Lebensjahr herabgesenkt wird. In zahlreichen Ländern und auch auf der kommunalen Ebene ist es bereits möglich, schon ab 16 Jahren zu wählen. Als Jugendorganisation sollte es unser Ziel sein, dass auch junge Menschen auf der kommunalen Ebene vertreten sind. Bei den Kommunalwahlen zeigen wir bereits, dass wir Jusos unser Recht in Anspruch nehmen, sich politisch zu beteiligen. Es kann nicht sein, dass im Jahr 2021 noch immer eine willkürliche Altersgrenze festgesetzt wird. Besonders im Amt der Bürgermeister*innen sind junge Menschen unterrepräsentiert und sollten auch ab dem 18 Lebensjahr, wo man voll geschäftsfähig ist, sich demokratisch engagieren dürfen.

D3 Lobbygesetz für NRW

1.09.2021

Die Vertretung gesellschaftlicher Interessen gegenüber Politik und allgemeiner Öffentlichkeit gehört zu den Wesensmerkmalen eines demokratischen Staatswesens. Interessenvertreterinnen und Interessenvertreter unterschiedlichster Art sind in verschiedenen Formen an demokratischen Willensbildungsprozessen beteiligt. Die Partizipation von Verbänden, Vereinen, Unternehmen, Organisationen und weiteren Akteuren der Interessenvertretung ist unbestreitbar ein wichtiger Bestandteil des Gesetzgebungsverfahrens. Bei der Formulierung von Gesetzen ist es wichtig, Einwände von betroffenen Gruppen anzuhören und denkbare Umsetzungsschwierigkeiten von vornherein zu vermeiden.

Genauso wie Parlamentssitzungen und Gesetzesentwürfe öffentlich einsehbar sind, muss es den Wähler*innen möglich sein, Einblick in diesen Prozess zu nehmen. Sie haben ein Anrecht darauf zu erfahren, wer außer den von ihnen dazu gewählten Abgeordneten am Gesetzgebungsverfahren beteiligt ist. Um das zu ermöglichen, müssen Abgeordnete offenlegen welche Nebenverdienste sie neben ihrer Abgeordnetentätigkeiten erwerben und mit welchen Interessensvertreter*innen sie in welcher Form in Kontakt stehen. Die Grenze zwischen notwendigem Lobbyismus und unzulässiger Einflussnahme müssen klar gezogen und deren Einhaltung durch öffentlichen Druck und angemessene Sanktionsandrohungen sichergestellt werden. Wir fordern deswegen ein umfassendes Gesetz zur Regelung von Lobbyarbeit bezogen auf den Landtag NRW, mit folgendem Inhalt:

  • In Gesetzesentwürfen ist aufzuführen, wer in welcher Form an dessen Erstellung mitgewirkt hat.
  • Spenden an Abgeordnete mit einem Wert über 100 Euro, unabhängig von welcher Organisation sind öffentlich zu machen.
  • Treffen von Abgeordneten mit Interessensvertretern sind innerhalb eines Monats nach dem Treffen zu veröffentlichen.
  • Um die Einhaltung der gesetzlichen Regelungen zu sichern ist eine unabhängige Kontrollstelle einzurichten und Sanktionen in entsprechender Höhe festzulegen.

Innerparteilich fordern wir zudem die Landesabgeordneten der SPD NRW auf ihre Nebeneinkünfte zu spenden.

D2 Whistleblower*innen endlich wirksam schützen!

1.09.2021

Whistleblowing erfüllt in Zusammenarbeit mit Medien oder Justiz eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft und Demokratie und nimmt dabei eine Art Kontrollfunktion für schwerwiegende Verstöße gegen Gesetze oder ethische Normen ein. Whistleblower*innen gehen dabei häufig erhebliche Risiken für ihr berufliches und privates Leben ein, teilweise sogar für ihr Leben selbst – sie verdienen deswegen Schutz und Unterstützung.

Die prominentesten Beispiele der aktuellen Zeit hierfür sind sicherlich Edward Snowden, Chelsea Manning und Julian Assange, die für die Aufklärung der Öffentlichkeit über unrechtmäßige oder sogar unmenschliche Vorgänge im Namen der Vereinigten Staaten mit Gefängnishaft bestraft oder bedroht wurden. Im Fall von Manning und Assange sprachen die UN-Sonderberichterstatter für Folter Mendez und Melzer sogar von Folter während ihrer Haft – ein Armutszeugnis und eine Schande für jeden Staat, insbesondere aber für Demokratien wie Großbritannien oder die USA. Dass 2020 einerseits der  Europarat die Freilassung von Assange gefordert hat, andererseits das EU-Parlament dessen Namen aus dem Bericht zur Lage von Menschenrechten in der EU gestrichen hat, zeigt das ambivalente Verhältnis von Staaten und Regierungen zu Whistleblower*innen.

Aber auch „unpolitische“ Whistleblower*innen benötigen Rechtssicherheit und vertrauliche Ansprechpartner*innen: Mit der Manipulation von Abgaswerten von Dieselautos bei VW und der Bilanzmanipulation hätte es auch in Deutschland in den letzten Jahren Bedarf für Mitarbeiter*innen, die unrechtmäßige Handlungen innerhalb des Unternehmens oder auch öffentlich ansprechen gegeben.

Wahrheitsfindung und die Aufdeckung von kriminellen Tätigkeiten in Unternehmen oder im Rahmen von staatlichen Aktivitäten wie bei Wirecard oder der manipulierten Software bei Dieselautos, sollte im Interesse eines und einer Jeden, insbesondere aber auch im Interesse von Staaten sowie Unternehmen, die dadurch die Möglichkeit zur Erledigung von Missständen oder die Beseitigung von unfairen und unlauteren Wettbewerbsvorteilen durch kriminelle Konkurrenz bekommen.

Dies war auch der Kerngedanke der EU-Richtlinie 2019/1937, die Ende 2019 von EU-Kommission, EU-Ministerrat und europäischem Parlament beschlossen wurde. Sie beinhaltet unter anderem die Pflicht für Unternehmen ab 50 Beschäftigten bzw. Jahresumsatz von 10 Millionen Euro und Gemeinden ab 10.000 Einwohner*innen interne Kanäle für anonyme Hinweise auf Missstände einzurichten. Auf diese muss innerhalb von 3 Monaten reagiert werden, indem die Hinweise weiterverfolgt werden und Whistleblower*innen eine Rückmeldung darüber erhalten. Diese sollen durch ihre Meldung keinerlei Nachteile erleiden, insbesondere sollen berufliche Konsequenzen (z. B. Kündigung, Einschüchterungen, Mobbing am Arbeitsplatz) ausgeschlossen sein. Wenn es keine internen Meldemöglichkeiten gibt oder nicht angemessen auf die Meldung reagiert, dann dürfen die Meldungen auch beispielsweise an Ermittlungsbehörden oder Medien erfolgen.

Diese Richtlinie hat eine Umsetzungsfrist bis zum 21.12.21, allerdings sieht es nach einer Blockade des Bundeswirtschaftsministers Peter Altmaier aktuell nicht so aus, als ob dies noch in dieser Legislaturperiode möglich wäre – und was mit dem Vorhaben nach der Bundestagswahl passiert ist ebenfalls unklar. Das Thema ist aber zu wichtig, um unter den Tisch gefallen lassen zu werden oder wie viele andere Initiativen von der Union verwässert zu werden! Zusätzlich ist es gegenüber den betroffenen Unternehmen unverantwortlich, dass die Umsetzung so lange verzögert wird, sodass diese sich kaum darauf vorbereiten können.

Über die Richtlinie hinausgehende Regelungen sind aber ebenfalls denkbar:

So bezieht sich diese nur auf Meldungen über Verstöße gegen EU-Recht, dies sollte auch auf Verstöße gegen nationales Recht ausgeweitet werden. Da es nicht nur in Deutschland oder der EU Whistleblower*innen gibt, die aber in ihrer Heimat gegebenenfalls deutlich schlechter vor (staatlichen) Repressalien geschützt sind, sollte der Schutz vor diesen Repressalien auch ein Asylgrund sein.

B10 [zurückgezogen] Rassismus ist keine Meinung! Lehrer*innen und Schüler*innen im Umgang mit Rassismus stärken

1.09.2021

Nicht erst seit den Anschlägen von Hanau und Halle ist struktureller Rassismus in Deutschland deutlich, denn der tagtägliche Rassismus ist ständig auf der
Straße und nun leider auch in allen Parlamenten durch die AfD vertreten. Noch im Jahr 2021 wird in der Sendung „Die letzte Instanz“ im WDR Rassismus verharmlost und interkulturellen Vereinen die Kompetenz abgesprochen, ohne die eigene zu reflektieren. Doch Reflektion ist keine angeborene Fähigkeit, sie wird erlernt.

In der öffentlichen Debatte wird stets von latentem Rassismus gesprochen, die Frage aber nicht erörtert für wen die Latenz gilt. Denn was für die
Mehrheitsgesellschaft latent erscheint, ist für marginalisierte Teile der Gesellschaft als klarer Rassismus wahrnehmbar und spürbar. Sprache ist eines der
prägendsten Mittel, um Denken und Handeln zu steuern, doch sind die wenigsten Menschen bereit ihre Sprache zu reflektieren, oder sie wissen es nicht besser.

Für Betroffene wird durch Sprache Rassismus normalisiert, erst recht, wenn sie bereits im Kindesalter damit konfrontiert werden. So sind Lehrer*innen in einer
besonderen Rolle, sensibel und kompetent mit rassistischen Missständen und ihrer eigenen Macht umzugehen. Fehlverhalten von Wenigen können in einem derart prägenden Berufsbild zu einer Schädigung von vielen Betroffenen führen.

Aber der Fokus darf nicht nur auf diesen Fehlverhalten liegen, die meist durch latente Rassismen bestärkt werden. Gleichzeitig muss an alle Lehrer*innen gedacht werden, die im Umgang mit rassistischen und diskriminierenden Situationen nicht alleine gelassen werden dürfen. Das Elternhaus, der soziokulturelle Hintergrund und viele weitere Gründe führen zu Rassismus seitens der Schüler*innen. Um diesen Umständen eine adäquate Prävention bieten zu können, beschließen die Jusos Köln, dass

  1. Lehrer*innen und jegliches pädagogisches Schulpersonal verpflichtet werden sollen, in einem Abstand von 5 Jahren wiederholend Antirassismus- und
    Antidiskriminierungsschulungen besuchen zu müssen.
  2. Jede*r Schüler*in im Laufe des Schullebens mindestens 2 Projektwochen zu Antirassismus und Antidiskriminierung erhalten soll.
  3. Beide Maßnahmen sollen durch externe Stellen durchgeführt werden. Die externen Stellen sollen mehrheitlich von Personen besetzt sein, die selbst
    von Rassismus oder Diskriminierung betroffen sind. Beispielhaft zu nennen sind hier die unabhängigen Antidiskriminierungsbüros und -beratungsstellen
    des Antidiskriminierungsverbands Deutschland (ADVD).

    B9 Lernen durch Engagement an Schulen fördern und fordern

    1.09.2021

    Die Landeskonferenz der NRW Jusos möge beschließen:

    Wir fordern, dass das Land NRW das ehrenamtliche Engagement von Jugendlichen fördert, indem es in Anlehnung an das Projekt “Lernen durch Engagement“ dieses zum Bestandteil der schulischen Bildung macht.

    Für einen gut funktionierenden Staat ist es von enormer Bedeutung, dass sich seine Bürger*innen bürgerschaftlich engagieren, denn das Unvermögen des Staats bei der Regulation von Krisensituationen am Arbeitsmarkt oder Tendenzen der Ausgrenzung in Gemeinden bedeutet, dass Bürger*innen Verantwortung übernehmen müssen. Das ehrenamtliche Engagement hat nicht nur das Potential die Kompetenzen (vor allem Soft Skills) von Jugendlichen zu fördern, sondern kann auch einen wichtigen Beitrag bei der Integration von Zuwander*innen spielen.

    Der stetige Wandel, den die heutige Gesellschaft durchläuft, stellt die Bürger*innen vor immer neue Herausforderungen. Die Kompetenzen jedes Einzelnen werden dadurch wertvoller, ihr Erwerb immer bedeutsamer und vielfältiger, wenn betrachtet wird, wo Wissen erlangt werden kann. Das Potential des bürgerschaftlichen Engagements als Ort der Bildung findet immer mehr Bedeutung in den Diskussionen. Indem die Engagierten sich im Zuge ihres Engagements mit sich und ihrer Umwelt auseinander setzen und dadurch ein anderes Verständnis entwickeln können, setzt das bürgerschaftliche Engagement Prozesse der Reflexion in Gang (Enquete-Kommission 2002).

    Jugendliche sind die Zukunft des Staates und seiner Demokratie. Es ist daher nicht von der Hand zu weisen, dass in ihre Ausbildung deutlich mehr investiert werden muss. Doch nicht alle Kompetenzen, die im späteren Leben gefordert werden, können in der Schule erworben werden. Die Umgebung des ehrenamtlichen Engagements ermöglicht es Jugendlichen schon früh Verantwortung zu übernehmen und ihre Fähigkeiten praktisch zu erproben. Sie lernen ihre Grenzen kennen und sehen, dass sie die Gesellschaft beeinflussen können. Leider lassen Studien jedoch auch immer wieder einen Zusammenhang zwischen ehrenamtlichem Engagement und der sozialen Herkunft erkennen. So kommt es, dass besonders die Schüler*innen nicht von dem “Lernort Engagement“ profitieren, die es verstärkt benötigen. Vor diesem Hintergrund ist es von großer Bedeutung diesen Ort auch für sie zu öffnen. Dies kann erreicht werden, wenn durch Schulen das ehrenamtliche Engagement gefördert wird. Dann haben auch Schüler*innen aus anderen gesellschaftlichen Schichten die Möglichkeit, Kompetenzen im bürgerschaftlichen Engagement zu erwerben und somit ihre Zukunftschancen zu verbessern.

    B6 [zurückgezogen] Schulgesundheitspfleger:innen an den Schulen in NRW etablieren!

    1.09.2021

    Die Juso-Landeskonferenz möge beschließen:

    Die NRW Jusos fordern die Etablierung von Schulgesundheitspfleger:innen an den Schulen in NRW zu etablieren und fordern daher:

    • Dass sich die SPD-Landtagsfraktion aktiv mit der Thematik befasst und entsprechende Forderungen in den parlamentarischen Beratungsprozess einbringt.
    • Die Aufnahme der Forderung nach der Etablierung von Schulgesundheitspfleger:innen in das Landtagswahlprogramm der NRWSPD.
    • Weitere Auseinandersetzung mit nationalen Standards und Handlungsrahmen für eine länderübergreifende Lösung
    • Eine tarifliche Eingruppierung der Schulgesundheitspfleger:innen in die Endgeldgruppe 9 bis 12 des TVöD (je nach Tätigkeitsprofil an der Schule).
    • Spezialisierte (Aus-, Fort-, und Weiter-) Bildungskonzepte für Pflegefachkräfte

    Begründung:

    In NRW lernen 2.487.700 junge Menschen im Schuljahr 2020/2021 an Schulen. Das Setting Schule prägt die Kindheit und Jugend wie kaum ein anderes. Jedoch nicht nur im positiven Sinne: Studien belegen, dass fast jede:r zweite Schüler:in unter Schulstress leidet, was schnell zu gesundheitlichen Problemen wie Kopf- und Bauchschmerzen, Schlafstörungen oder Schwindel führen kann[1].  Durch Corona ist der Anteil der jungen Menschen, die an psychischen Erkrankungen leiden, nochmals stark angestiegen[2]. Aber nicht nur Lernende sind von den gesundheitlichen Folgen im Setting Schule betroffen, auch Lehrkräfte sind im besonders hohen Maß gefährdet psychische Krankheiten, wie das Burn-Out-Syndrom zu entwickeln. Nicht zuletzt wegen der hohen Anforderungen, die der Beruf im Alltag ohnehin mitbringt. Aber was passiert, wenn Verletzungen, wie Stürze oder Unfälle, in der Schulzeit entstehen? Ist es eine bedrohliche Situation, die medizinischer Abklärung/Intervention bedarf oder reicht eine Wundversorgung aus? Müssen berufstätige Erziehungsberechtigte die Arbeit unterbrechen und ihr Kind abholen, wenn es Bauchschmerzen hat oder lindert ein intensives professionelles (Beratungs-)Gespräch bereits Symptome des ggf. bestehenden Leistungsdrucks? Was für weitere Schritte müssen daraufhin folgen, um chronische psychische Krankheit zu verhindern? Wie können Kinder, mit und ohne chronische Erkrankung oder Behinderung gemeinsam an Schulen lernen, ohne dass Lehrkräfte mit der Gesundheitsversorgung überfordert werden? Und wie kann die Gesundheit bei Schüler:innen, aber auch bei Lehrkräften, z.B. durch eine gesunde Umgebung gefördert und Krankheiten (sowohl psychisch als auch physisch) verhindert werden?
    Mit all diese Fragen sollen sich Lehrkräfte nicht noch zusätzlich beschäftigen müssen. Sie sind Expert:innen für Lehr- und Lernprozesse, für Bildung und Erziehung. Mit gesundheitsbezogenen Themen sollten sich Schulgesundheitspfleger:innen an Schulen in NRW auseinandersetzen, die professionelles Wissen zu Gesundheit und Krankheit in einem Bachelorstudium erworben haben und eng mit dem Schulpersonal zusammenarbeiten.
    Was in vielen Ländern als die typische „School-Nurse“ bekannt ist, hat auch in NRW Zukunft. Mit der Etablierung von akademisierten Schulgesundheitspfleger:innen an den Schulen in NRW könnte eine geregelte Gesundheitsversorgung und -förderung für Kinder, Jugendliche und Schulpersonal genau dort stattfinden, wo sie ohnehin sehr viel Zeit verbringen: an der Schule. Dass Schulen dafür geeignete Orte sind, ist hinreichend belegt. Ein großes Modellprojekt der Länder Brandenburg und Hessen und der AWO haben den positiven Nutzen von Pflegefachkräften an 27 Schulen für Erziehungsberechtigte, Lehrende, Allgemeinmediziner:innen und Kinder belegt[3]. Auch die Landesregierung von Hamburg hat den positiven Nutzen erkannt und will Schulgesundheitspfleger:innen an Schulen (vorerst mit niedrigem Sozialindex[4]) einsetzen.
    Schulgesundheitspfleger:innen entlasten berufstätige Erziehungsberechtigte, den Notfall- und allgemeinmedizinischen Dienst[5] und Lehrkräfte. In Notfällen wissen Sie was zu tun ist, sie sind in der Lage Verletzungen einzuschätzen und (erst) zu versorgen. Sie können die Inklusion von chronisch kranken Kindern und Kindern mit Behinderung an Regelschulen durch eine gesicherte Gesundheitsversorgung (z.B. Medikamentengabe, pflegerische Grundversorgung) vorantreiben, gesundheitliche Ungerechtigkeiten bei Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Milieus ausgleichen. Auch die Einführung und Durchführung geeigneter Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention (wie Impfkampagnen, Sexualaufklärung, Bewegungs- und Ernährungslehre, psychische Gesundheitsförderung und Suchtberatung) stehen in dem Aufgabenprofil. Sie haben die (psychische) Gesundheit der Schüler:innen im Blick und können gefährdete Kinder und Jugendliche frühzeitig erkennen und ggf. weitere Schritte im Gesundheits- und Sozialsystem einleiten.

    Zudem würde dieses Tätigkeitsfeld akademisierten Pflegekräften eine attraktive Alternative zur ‚Pflege am Bett‘ und Schichtdienst geben.

    All dies sind sehr wichtige Faktoren, die für die Etablierung von Schulgesundheitspfleger:innen sprechen.  Aber auch aus einer ökonomischen Perspektive überwiegt der Nutzen den Investitionskosten. Ergebnisse unterschiedlichster Analysen zeigen, dass Schulgesundheitsfachkräfte positive Effekte auf die Ausgaben der gesetzlichen Unfallversicherer und der Krankenkassen haben.

    Aus all diesen Gründen sind Investitionen hier gut angelegt, denn eine Investition in die Gesundheit unserer Kinder heißt, in die Zukunft zu investieren. Gesundheitsförderung und Prävention sind wichtige Stellschrauben, um einen Kollaps des Gesundheitssystem zu verhindern und gutes Aufwachsen von allen Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen. Und genau dafür sollte eine sozial gerechte Schul- und Gesundheitspolitik stehen.

    [1] https://de.statista.com/infografik/12245/schulstress-fuehrt-zu-gesundheitsproblemen/

    [2] Vgl. Brakemeier et al., 2020, S.1ff.

    [3] Vgl. https://schulgesundheitsfachkraft.de/

    [4] „Der Sozialindex beschreibt die sozio-ökonomische Zusammensetzung der Schülerschaft an Schulen auf einer Skala von 1 bis 6. Dabei steht eine 1 für Schulen, die eher Kinder aus schwierigen sozio-ökonomischen Verhältnissen beschulen und eine 6 für Schulen, die Schülerinnen und Schüler aus eher privilegierten sozio-ökonomischen Verhältnissen beschulen“ (https://www.hamburg.de/bsb/hamburger-sozialindex/ )

    [5] Studien zeigen, dass an Schulen mit Schulgesundheitspfleger:innen der Einsatz von RTWs bis zu 64% und die der Heilbehandlungskosten bis zu 20% verringert werden konnte (file:///C:/Users/ANWEND~1/AppData/Local/Temp/gutachten-rahmenbedingungen-und-oekonomische-aspekte.pdf )

    B5 [zurückgezogen] Pflicht-Modulprojekt „Psychische Gesundheit“ in öffentlichen Bildungseinrichtungen

    1.09.2021

    Die Jusos setzen sich dafür ein, dass in allen öffentlichen Bildungseinrichtungen verpflichtend ein Modulprojekt zum Thema psychische Gesundheit angeboten werden muss. Dieses darf nicht ausschließlich von Lehrenden oder regulären Professor*innen durchgeführt werden, sondern muss von Expert*innen auf dem Gebiet psychischer Gesundheit (Therapeut*innen, Ärzt*innen, Psycholog*innen, Schulsozialarbeiter*innen etc., evtl. auch Psychologiestudierende) begleitet werden. Das Modul soll alle Beteiligten der Einrichtungen für klinisch bedeutsame psychische Störungen (beispielsweise Depression, Burn-Out uvm.) sowie die allgemeine psychische Gesundheit sensibilisieren und Beratungs- und Hilfsangebote aufzeigen. Parallel sollen Orte in den Bildungseinrichtungen geschaffen oder gefördert werden, die das vertrauliche Schildern von Problemen für Schüler*innen/Studierende ermöglichen.

    Die Vertrauenspersonen müssen entsprechend sensibilisiert und dahingehend ausgebildet werden, bei Problemen mit klinischer Bedeutsamkeit die Schüler*innen oder Studierende an entsprechende Expert*innen mit Approbation (Psychotherapeut*innen, Psychiater*innen und Ärzt*innen) weiterzuleiten. Eine Behandlung von psychischen Störungen soll weiterhin ausschließlich von diesen vorgenommen werden In der Pandemie haben sich psychische Probleme bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch Kontaktabbrüche, familiäre Situationen und andere Aspekte deutlich verstärkt. Bereits im Juni 2020 wurden bei 31% der 7- bis 17-Jährigen psychische Auffälligkeiten festgestellt.[1]

    Die Pandemiesituation verschärft aber nur ein altes Problem: Psychische Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen wird häufig vernachlässigt oder missinterpretiert. Dabei ist psychisches Wohlbefinden von genauso hoher Relevanz wie körperliche Gesundheit und wirkt sich auf diese sowie die Interaktion mit anderen Menschen aus. Menschen mit psychischen Störungen sterben 20 Jahre jünger als die allgemeine Bevölkerung.[2]

    Seit Jahrzehnten ist daher klar, wie wichtig das Bildungsumfeld auch für die emotionale Entwicklung und psychische Gesundheit ist.[3] Gerade durch Lernstress, Verdichtung sozialer Strukturen und die Stellung von Bildungseinrichtungen als Lebensmittelpunkt wird diese besondere Bedeutung unterstrichen.

    Daher sollte es für alle öffentlichen Bildungseinrichtungen (Schulen, Universitäten, etc.) verpflichtend sein, durch Fachpersonal unterstützt für alle Schüler*innen das Modul „Psychische Gesundheit“ zur Sensibilisierung, Unterstützung und Hilfeleistung anzubieten. Eine reine Betreuung durch Lehrende/Professor*innen wäre kontraproduktiv, da festgefahrene soziale Strukturen selbst Teil des Problems sein können und durch das Hinzuziehen von Expert*innen (teilweise) aufgelöst werden könnten. Außerdem ist durch die Vermischung der persönlichen und institutionellen Rolle der Lehrenden[4] das Vertrauensverhältnis zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen vorbelastet.[5] Dies ist in der eindeutig definierten Beziehung zu Expert*innen nicht der Fall[4].

     

    [1] Ravens-Sieberer, U; Kaman, A; Otto, C et al. (2020): Mental health and quality of life in children and adolescents during the COVID-19 pandemic – results of the COPSY study. Dtsch Arztebl Int 117:828–829

    [2] WHO (2019): Psychische Gesundheit – Faktenblatt. URL: https://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0006/404853/MNH_FactSheet_DE.pdf

    [3] Bilz, Ludwig (2008): Schule und psychische Gesundheit. Risikobedingungen für emotionale Auffälligkeiten von Schülerinnen und Schülern. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 242

    [4] Fabel-Lamala, Melanie; Fetzer, Janina (2014): Vertrauen in Schule(n) – ein Überblick. In: Bartmann, Sylke: Vertrauen in der erziehungswissenschaftlichen Forschung. Opladen/Berlin: Verlag Barbara Budrig, S. 252

    [5] Bormann, Inka (2012): Vertrauen in Institutionen der Bildung […]. In: Zeitschrift für Pädagogik 58 6, S. 815